Monat: August 2025

Blick in den Spiegel

Alt werden bedeutet, sich immer weniger selbst betrügen zu können. Das Leben wird gnadenlos ehrlich. Die Wahrheit ist am Ende zwar nicht unbedingt einfach, aber ganz gewiss schlicht.

Ohne Dank

Der Übermut ist die Freude am Erfolg, der die Dankbarkeit fehlt.

Erinnere dich deiner Erwartungen

Man kann Menschen unterscheiden in der Art, wie sie ihr Selbstverständnis bestimmen: ob sie ihre Identität gewinnen eher aus der Erinnerung oder der Erwartung. Dabei hilft es, sich seiner Erwartungen zu erinnern, wenn man versucht, die Erwartungen zu verinnerlichen. Wie umgekehrt jede Erinnerung oft dereinst eine Erwartung war und zum Ursprung neuer Erwartungen werden kann.

Politische Metaphern

Spätestens an der falschen Bildsprache, die zu unfreiwillig komischen Vorstellungen verleitet, wird deutlich, dass eine Politik den notwendigen Realitätsbezug verloren hat. Wer noch von den „politischen Rändern“ redet aus dem hohlen Selbstbewusstsein heraus, sich zur „Mitte“ zu zählen, verkennt, dass das, was sich für die Repräsentation des bürgerlichen Spektrums hält, um in der Metaphorik zu bleiben, kaum größer ist als ein kräftiger Punkt. Wohingegen der Rand sich längst ausgewachsen hat zum auffälligen Wulst. An den Rand drängen, meint: zur Bedeutungslosigkeit degradieren. Rand sein hingegen, um die Anschauung genau zu nehmen, kann auch einhergehen mit der Aufgabe, den Rahmen zu bilden. Das Bild ist schief.

Meinungsfreiheit

Darin zeigt sich Freiheit als das, was sie ist: in der Überlegenheit und Überlegung, nichts zu müssen, Abstand nehmen zu können, der Distanz den Vorzug zu geben vor der Neigung, sich einzumischen. Das gilt heute vor allem vom geschützten Recht der Meinungsfreiheit. Wie befreiend wäre es, wenn nicht jeder, der eine Meinung hat, sie gleich kundtun müsste.

Macht(ver)lust

Die Lust an der Macht ist, was ihr Ende einleitet. Nichts bedroht Macht mehr als die Freude, sie auszudehnen. Jeder Schritt einer nächsten Ermächtigung testet ihre Grenzen neu aus mit dem Effekt, dass sie nicht anerkannt werden, vor allem nicht von dem, der sie neu definiert hat. Zwischen Machtlust und Machtverlust ist nur ein kleiner Schritt.

 

 

 

Leben nach dem Tod

Wenn es stimmt, dass der Verlassene weniger einsam ist als der, der verlassen hat, dann bedeutet der absolute Abschied, das Sterben, für den, der geht, den härtesten Kampf mit der Isolation. Zu wissen, dass auf den letzten Lebensschritten die Begleitung regelmäßig ausfällt, mag für so manchen der Anlass sein, die Frage zu stellen: Was kommt danach? Eine Religion taugt so viel, wie sie die Angst vor der Einsamkeit bannt.

Varianten der Verlogenheit

Aus einem ehrlichen Mitgefühl, das aber nicht ins Handeln findet, entstammen alle Varianten der Verlogenheit wie Heuchelei, Selbstbetrug, Illoyalität.

Noch einmal: Schreiben

Aus einer Samstagslektüre

„Schreiben heißt also die Welt enthüllen und sie zugleich der Hingabe des Lesers als eine Aufgabe stellen. Heißt auf das Bewußtsein andrer zurückgreifen, um sich für die Totalität des Seins als wesentlich anerkennen zu lassen; heißt diese Wesentlichkeit durch dazwischengeschobene Personen leben wollen; weil aber andrerseits die reale Welt sich nur dem Handeln offenbart, weil man sich nur darin fühlen kann, sofern man sie überschreitet, um sie zu verändern, fehlte es dem Universum des Romanciers an Dichte, wenn man es nicht in einer Bewegung, es zu transzendieren, entdeckte. Man hat oft festgestellt: ein Gegenstand in einer Erzählung gewinnt seine Existenzdichte nicht aus der Zahl und der Länge der Beschreibungen, die man darauf verwendet, sondern aus der Komplexität seiner Bezüge zu den verschiedenen Figuren; er wird um so realer erscheinen, je öfter er gehandhabt, ergriffen und hingestellt, kurz, von den Figuren auf ihre eignen Zwecke hin überschritten wird. Das gilt auch für die Romanwelt, das heißt für die Totalität der Dinge und der Menschen: damit sie ihr Maximum an Dichte erreicht, muß die schöpferische Enthüllung, durch die der Leser sie entdeckt, auch imaginäres Engagement im Handeln sein; anders gesagt, je mehr man Geschmack daran finden wird, sie zu ändern, desto lebendiger wird sie sein.“*

* Sartre, Was ist Literatur?, 51

Lesen und Schreiben

Schreiben, ohne zu lesen, wird hohl. Lesen, ohne zu schreiben, bleibt schal.

Angetragene und aufgetragene Erinnerungen

Mit dem Alter steigt die Zahl derer, die sich gemeinschaftlich erinnern wollen. Klassentreffen, das Wiedersehen mit den Studiengemeinschaften, Jubiläen des Examens, das alles sind Anlässe, frühe Bekanntschaften zu erproben, ob sie an Zukunft noch etwas versprechen. Den Test bestehen die wenigsten. Es wird viel gelacht, noch mehr Anekdoten werden ausgetauscht. Man verlässt solche Treffen meist leer, auserzählt, gelangweilt vom Immergleichen: Was machst du heute? Was macht die wohl, die nicht dabei ist? Weißt du noch? Selten – aber es kommt vor – ist unter den standardisierten Geschichten ein Mosaikstein, der das Bild, das man sich von sich selbst macht, vervollständigt oder verändert. Das sind Glücksaugenblicke. Aus tiefster Vergangenheit entsteht plötzlich eine Identitätsgewissheit, die weit in die Folgezeit hinein ragt. Die Erinnerung ist zum Risiko für die Gegenwart geworden.

A & Ω

Nirgendwo drückt sich die Vorstellung, der Mensch habe eine Würde, deutlicher aus als darin, dass wir seinen Anfang und sein Ende nicht antasten.

Sich den Gast geben

Eines der größten Missverständnisse im Feriengewerbe handelt vom unendlichen Maß der Gastfreundschaft. Ein guter Gastgeber ist nicht der, welcher alle willkommen heißt. Sondern der, welcher seine Gäste so behandelt, dass à la longue bestimmte Urlauber nicht mehr wiederkommen wollen. Man kann nicht mit allen befreundet sein, wenn man Freundschaft ernstnimmt. Das gilt erst recht für ein offenes Haus.

Kein Ansehen

Menschen, die am Bildschirm arbeiten, kennen das: Irgendwann verändert sich der Blick. Nicht mehr ich sehe, was sich auf dem Monitor zeigt, sondern das Display leuchtet mich an. Es ist die flache Variante des tiefen Worts von Nietzsche: „Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“* Die Entfremdung ist doppelt. Das Ich verliert die Souveränität seines eigenen Hinschauens; der Anblick des anderen ist kein Ansehen.

* Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Nr. 146

Der absolute Schmerz

Für einen Menschen, der leidet, hat nichts anderes mehr Bedeutung als sein Schmerz. Trösten meint, diesen Absolutheitsanspruch des Leidens gebrochen zu haben.

Spielgeschehen

Unter allen Spielern gewinnt der, dem es gelingt, die anderen nicht spüren zu lassen, dass mit ihnen gespielt wird.

Worte, mehr als Worte

„Es soll kein Friedensschluß für einen solchen gelten, der mit dem geheimen Vorbehalt des Stoffs zu einem künftigen Kriege gemacht worden.“*

* Kant, Zum ewigen Frieden, BA 5

Die Bedingungen des Friedens

Es gibt keinen Frieden ohne Verzicht. Zumindest davon müssen beide Konfliktparteien lassen: von dem Drang, sich selbst zu rechtfertigen.

Künstlich, natürlich

Dass die künstliche Intelligenz einen tiefen Einschnitt darstellt, nicht nur ökonomisch, nicht nur technisch, nicht nur wissenschaftlich, ist eine so ausgemachte Sache, wie es überhaupt noch nicht entschieden ist, ob ihre funktionale Brillanz den Überdruss des Menschen an ihm selbst fördert oder die Lust verstärkt, die er wieder an seiner „Menschlichkeit“ empfindet. Beides ist denkbar. Eines indes ist jetzt schon beschlossen: dass diese neuerliche, vierte Demütigung (siehe Freuds drei „Kränkungen der Menschheit“ durch Kopernikus, Darwin und ihn selbst) den Menschen zwingen wird, sich radikal anders selbst zu verstehen.

Bilanz nach hundert Amtstagen

Jede Regierung geht die Wette ein darauf, dass die Wahlbürger angesichts der Zumutungen, die an die Bevölkerung ergehen, und der uneingelösten Versprechen ruhig bleiben. Sie ist ein Kalkül mit dem sozialen Trägheitsgesetz.

Ich habe keine Zeit …

… sie wurde mir geschenkt. Im Verhältnis zu unserer eigenen Lebenszeit sind wir im wesentlichen passiv. Sie ist die größte Gabe, mit der wir bedacht sind, nicht allein und vor allem nicht, damit wir sie uns nehmen, sondern um sie weiterzuschenken. Zeit hat, wer sie für andere gibt.

Nicht alles ist relativ

Dialektische Diskussion mit dem sophistischen Sitznachbarn

… „Aber es muss doch feste Wahrheiten geben. Sonst ist alles verloren. Du kannst doch nicht alles abhängig machen von Perspektiven, Sichtweisen, Meinungen.“
„Das tue ich auch nicht. Ich füge mich nur nicht ein in ein starres Gerüst aus absoluten Sätzen, die du nicht anzweifeln darfst.“
„Im Gegenteil. Du sollst sie sogar skeptisch sehen. Erst dann wirst du überhaupt merken, dass es solche prinzipiellen Gewissheiten gibt.“
„Ok. Frage: Was ist das Gegenteil von ,absolut‘?“
„Das ist ja die Pointe. Das Absolute hat kein Gegenteil. Es steht für sich, losgelöst von allem.“
„Wäre dem so, könnten wir es nicht verstehen. Nur was einen Kontext hat, hat auch eine Bedeutung.“
„Na gut, das Gegenwort ist natürlich ,relativ‘. Ich weiß, du wirst mir jetzt gleich vorführen, dass dann das Absolute nicht absolut ist, weil es eine Relation hat zum Relativen, seinem Pendant, auch wenn das nur gedankendürre Wortklaubereien sind.“
„Das ist deine Ansicht. Und dein Vorurteil. Ich wollte anderes ausführen. Aber so bestätigst du natürlich viel besser, dass wir dauernd irgendwelche Vorbegriffe, vorgefasste Erwartungen mit uns führen, die unser Blickfeld so einengen, dass da absolut nichts Absolutes zu erscheinen vermag.“
„Warum strengst du dich so an und willst mit mir streiten? Warum lässt du nicht locker? Weil du überzeugt bist, dass das sinnvoll ist, mich auf deine Sicht der Dinge zu verpflichten. Aber das setzt Grundlegendes voraus: dass Bedeutungen nichts Willkürliches sind, dass wir einander verstehen können, auch wenn es allzu selten geschieht, dass Menschen einen Horizont miteinander teilen. Das Absolute ist nicht das, was sich zu erkennen gibt. Es ist vielmehr das, was allem Erkennen vorausliegt. Und sich ihm so entzieht, losgelöst von jedweder Reflexion. Es muss Absolutes geben, auch wenn wir kaum sagen können, was es denn ist, das so zu heißen verdient.“
„Hm.“
„Das Absolute ist, was uns sprachlos macht.“

Offen gesagt

Politische Freiheit bedeutet, in der Öffentlichkeit offen sein zu können, es aber nicht zu müssen.

Neuinterpretation

Die Kunst der Politik besteht darin, genau so viele Worte zu machen, dass sie sich immer wieder anders interpretieren lassen. – „Was hat er gesagt?“ „Keine Ahnung, er hat so lang geredet.“