Tag: 4. August 2025

Die Fremdheit des Vertrauten

Aus einer Abendlektüre

Die Versuche, aus den Räumen der Heimat von Fremdheit gereinigte Orte zu machen, verkennen, dass Fremdes und Fremdartiges auch im Innern unserer Heim- und Lebenswelt notwendige Voraussetzung von Heimat sind. Und dies ist nicht einzig an den besonderen Räumen und ihren Unzugänglichkeiten festzumachen. Denn auch die in ihnen lebenden Menschen sind nie ganz und gar an einem Ort. Sie arbeiten hier und sind mit ihren Gedanken bei einem Kinobesuch am späten Abend in der Nachbarstadt, sie warten an einer Bushaltestelle und wünschen sich, bereits bei ihren Freunden am anderen Ende der Stadt zu sein oder sie sitzen bequem auf ihrem Fauteuil zu Hause und sehnen sich nach einem Abendessen in einem Pariser Restaurant, in dem sie vor einigen Wochen diniert haben.
Nie sind wir ganz und gar da, wo wir sind. Wir sind immer auch mit unseren Gefühlen, Gedanken, Wünschen und Erinnerungen an anderen Orten. Anders als Steine oder tief verwurzelte Bäume können wir uns fortdenken und können fortgehen. Wir sind dann immer ein bisschen woanders, während wir uns doch hier in unserer Wohnung oder an unserem Arbeitsplatz befinden. Unserem Begehren und unserem Wunsch, irgendwo zuhause zu sein und uns zu beheimaten, widerspricht dies nicht. Wir sind nicht heimatlos, weil wir uns manchmal an einen anderen Ort und zu anderen Menschen wünschen.“*

* Alfred Hirsch, Heimatweh. Eine philosophische Erzählung, Baden-Baden 2025, 119