Monat: September 2025

Alterserscheinung

Das Alter setzt in dem Augenblick ein, in dem andere einen zum Vorbild erkoren haben.

Lebendige Lücke

Nur ein Gedächtnis, das vergisst, kann lebendig erhalten, was es zu bewahren sucht. Wäre die Erinnerung lückenlos, ja so vollkommen, dass sie alles Geschehene behielte, besetzte sie die Existenz eines Menschen, ohne Platz zu lassen für deren Zukunft. Tod bedeutet, dass die Vergangenheit absolut geworden ist.

Amtsmissverständnis

Das Missfallen an der und der Verdruss über Politik spiegelt unverzerrt das Ausmaß, in dem Politiker und Verwaltungsbeamte die Ämter, die ihnen anvertraut sind, für ihre eigenen Zwecke skrupellos missbrauchen. Zur Verrohung einer Gesellschaft trägt maßgeblich bei, dass Mächtige ihre institutionell legitimierte Überlegenheit nicht mehr als Dienst an ihr begreifen, sondern als Privileg, die eigenen Interessen durchsetzen zu können.

Was sich hält

Die Erinnerung an einen Menschen verblasst mit der Zeit. Zunächst sind es seine Worte, die vergehen, bis auf wenige eindrückliche Sätze oder feste Redewendungen. Der Klang der Stimme indes bleibt. Dann verlieren seine Handlungen an Kontur, bis auf die eine Heldentat, die überraschende Intervention. Aber die Haltung, aus der sie entstammen, bleibt präsent. Was aber nie verschwindet, ist das Gefühl, das man hatte in seiner Gegenwart.

Die neue Weltordnung

Was einst die Grundalternative war „Ist das wahr oder gelogen, richtig oder falsch?“, moralisch: „gut oder böse?“, diese Differenzen werden heute nur noch in einer einzigen schlichten Frage gefasst: Bist du für mich oder gegen mich? In dem Maße, wie die Parteien politisch an Bedeutung verlieren, nimmt die Parteilichkeit zu.

Ach, Europa

Es ist schwer, eine starke Identität auszubilden, solange man von sich selbst nur eine schwache Idee hat.

Schlagfertigkeit

Der Rüpel, der als politische Figur, derzeit maßlos Erfolge feiert, lebt vom Überraschungseffekt. Noch im Schock erstarrt weiß sein Gegenüber stets nur zu spät zu reagieren. Da ist die üble Sache längst in der Welt. Ihr nachgereicht wird oft Empörung, die kraftlos und schneller abgegriffen wirkt als das ständige Spiel mit der Provokation. Frechheit siegt, sagt das Volk und gesteht implizit seine Ohnmacht. Es sei denn, und das fürchtet der politische Rowdy am meisten, man nimmt ihn nicht ernst. Was gegen die Absurdität der Autokratie schnell hilft: die Macht der unfreiwilligen Komik. Aufklärung bedeutet, das Lächerliche ans Licht zu holen, das sich hinter dem gespielten Ernst des Rohlings verbirgt.

Lass dir das nicht gefallen

Integrität ist der Name für das, was wir uns gerade nicht mehr gefallen lassen. Der eine lässt Drohnen über fremdem Territorium kreisen, der andere freut sich hämisch über die Einschränkung von Meinungsfreiheit und lässt Kritiker kaltstellen. Der integre Teil der Gesellschaft schreit „Autsch!“ Was muss geschehen, bis aus dem Schmerz die Kräfte erwachsen, die zurückschlagen und ihrerseits testen, ob Großmäuligkeit und Großmannssucht nicht nur die rücksichtslosen Varianten der Feigheit sind.

Ein rundes Leben

Es ist ein Glück, wenn die Existenz eines Menschen mit derselben Zustimmung zum Leben, mit der sie begonnen hat, auch enden kann. Ein Ja zum Schluss verwandelt den Zuspruch am Anfang in Zuversicht.

Was nicht geht

Übersättigte Gesellschaften glauben, es genügten allein destruktive Kräfte, um sich zu erneuern.

Vitale Mathematik

Eine Seele zu haben bedeutet, den Kräften des Lebens einen Vektor zuordnen zu können, der sie ausrichtet.

Vater

Ein Nachtrag:
Anders als es Sigmund Freud meinte, den Vätern nachsagen zu müssen, dass sie danach trachteten, sich in der Konkurrenz zum Sohn über ihn zu behaupten vor der Mutter, lässt sich von einen guten Vater vor allem eines lernen: dass es eine Liebe gibt, die nichts für sich will, und eine Gerechtigkeit, die keinen Ausgleich schaffen muss, weil sie sich nicht über den Mangel bestimmt, und eine Kraft, die die Schwäche nicht verachtet.

Überzeugungsfreiheit

Aus einem Gespräch mit dem Meisterdenker des Gesprächs:

„Wir müssen endlich wieder lernen, wie man ein richtiges Gespräch führt. Das ist eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe für die Philosophie. Ein Gespräch setzt voraus, dass der andere Recht haben könnte.“*

* Hans-Georg Gadamer im Interview mit Thomas Sturm, in: Der Spiegel 8/2000

Einträchtige Niedertracht

Manchmal bedeutet „politisch korrekt“ nichts anderes, als dass dem Ressentiment die Gelegenheit gegeben wird, ungehemmt Macht auszuüben.

Woran das Denken scheitert

Zur Weisheit des Lebens gehört vor allem die demütige Einsicht, dass es zu dessen Beginn und dessen Beschluss einen Vorrang des Lassens vor dem Tun gibt. Anfang und Ende sind die beiden Momente, in denen es vom Handeln dispensiert.

Umdeutungshoheit

Es ist die Neigung vieler Politiker, sich die Misserfolge umzudeuten in mindestens passable Siege, die zu den nächsten Niederlagen entscheidend beiträgt.

Denkste. Über den Selbstbetrug des Aktivismus

Aus dem letzten Radioessay von Adorno mit dem Titel „Resignation“, kurz vor seinem Tod 1969 verfasst:

„Die repressive Intoleranz gegen den Gedanken, dem nicht sogleich die Anweisung zu Aktionen beigesellt ist, gründet in Angst. Man muß den ungegängelten Gedanken und muß die Haltung, die ihn nicht sich abmarkten läßt, fürchten, weil man zutiefst weiß, was man sich nicht eingestehen darf: daß der Gedanke recht hat. Ein uralt bürgerlicher Mechanismus, den die Aufklärer des achtzehnten Jahrhunderts gut kannten, läuft erneut, doch unverändert ab: das Leiden an einem negativen Zustand, diesmal an der blockierten Realität, wird zur Wut auf den, welcher ihn ausspricht. …

In der verabsolutierten Praxis reagiert man nur und darum falsch. Einen Ausweg könnte einzig Denken finden, und zwar eines, dem nicht vorgeschrieben wird, was herauskommen soll, wie so häufig in jenen Diskussionen, bei denen feststeht, wer recht behalten muß, und die deshalb nicht der Sache weiterhelfen, sondern unweigerlich in Taktik ausarten. Sind die Türen verrammelt, so darf der Gedanke erst recht nicht abbrechen. Er hätte die Gründe zu analysieren und daraus die Konsequenz zu ziehen. An ihm ist es, nicht die Situation als endgültig hinzunehmen. Zu verändern ist sie, wenn irgend, durch ungeschmälerte Einsicht. Der Sprung in die Praxis kuriert den Gedanken nicht von der Resignation, solange er bezahlt wird mit dem geheimen Wissen, daß es so doch nicht gehe.
Pseudo-Aktivität ist generell der Versuch, inmitten einer durch und durch vermittelten und verhärteten Gesellschaft sich Enklaven der Unmitelbarkeit zu retten. Rationalisiert wird das damit, die kleine Veränderung sei eine Etappe auf dem langen Weg zu der des Ganzen. …

Das Vertrauen auf die limitierte Aktion kleiner Gruppen erinnert an die Spontaneität, die unter dem verharschten Ganzen verkümmert und ohne die es nicht zu einem Anderen werden kann. Die verwaltete Welt hat die Tendenz, alle Spontaneität abzuwürgen, nicht zuletzt sie in Pseudo-Aktivitäten zu kanalisieren. Das wenigstens funktioniert nicht so umstandslos, wie die Agenten der verwalteten Welt es sich erhofften. Jedoch Spontaneität ist nicht zu verabsolutieren, so wenig von der objektiven Situation abzuspalten und zu vergötzen wie die verwaltete Welt selber. Sonst schlägt die Axt im Haus, die nie den Zimmermann erspart, die nächste Tür ein, und das Überfallkommando ist zur Stelle. Auch politische Tathandlungen können zu Pseudo-Aktivitäten absinken, zum Theater. … Die Ungeduld gegenüber der Theorie, die in ihr sich manifestiert, treibt den Gedanken nicht über sich hinaus. Indem sie ihn vergißt, fällt sie hinter ihn zurück. …

Demgegenüber ist der kompromißlos kritisch Denkende, der weder sein Bewußtsein überschreibt noch zum Handeln sich terrorisieren läßt, in Wahrheit der, welcher nicht abläßt. Denken ist nicht die geistige Reproduktion dessen, was ohnehin ist. Solange es nicht abbricht, hält es die Möglichkeit fest. Sein Unstillbares, der Widerwille dagegen, sich abspeisen zu lassen, verweigert sich der törichten Weisheit von Resignation. In ihm ist das utopische Moment desto stärker, je weniger es – auch das eine Form des Rückfalls – zur Utopie sich vergegenständlicht und dadurch deren Verwirklichung sabotiert. Offenes Denken weist über sich hinaus. Seinerseits ein Verhalten, eine Gestalt von Praxis, ist es der verändernden verwandter als eines, das um der Praxis willen pariert. Eigentlich ist Denken schon vor allem besonderen Inhalt die Kraft zum Widerstand und nur mühsam ihr entfremdet worden. Ein solcher emphatischer Begriff von Denken allerdings ist nicht gedeckt, weder von bestehenden Verhältnissen, noch von zu erreichenden Zwecken, noch von irgendwelchen Bataillonen. Was einmal gedacht ward, kann unterdrückt, vergessen werden, verwehen. Aber es läßt sich nicht ausreden, daß etwas davon überlebt. Denn Denken hat das Moment des Allgemeinen. Was triftig gedacht wurde, muß woanders, von anderen gedacht werden: dies Vertrauen begleitet noch den einsamsten und ohnmächtigsten Gedanken. Wer denkt, ist in aller Kritik nicht wütend: Denken hat die Wut sublimiert. Weil der Denkende es sich nicht antun muß, will er es auch den anderen nicht antun. Das Glück, das im Auge des Denkenden aufgeht, ist das Glück der Menschheit. Die universale Unterdrückungstendenz geht gegen den Gedanken als solchen.
Glück ist er, noch wo er das Unglück bestimmt: indem er es ausspricht. Damit allein reicht Glück ins universale Unglück hinein. Wer es sich nicht verkümmern,läßt, der hat nicht resigniert.“

Die Idee, die reich macht

Phantasie lebt von der Fähigkeit, sich wieder und wieder zu übertreffen. Im Grunde ist sie ohne Steigerung nicht denkbar. Was wunder, dass es leichter fällt, die Einbildungskraft zu richten aufs Böse. Das kann immer verschärft werden. Gut hingegen, im moralischen Sinn, kennt nicht einmal den Komparativ „besser“. Im Absoluten hat der Ideenreichtum keinen Platz, weil es selber nichts anderes ist als dieser, die Idee, die reich macht.

Erlitten

Der Vorteil früher Niederlagen ist, dass man aus ihnen noch die richtigen Konsequenzen ziehen kann. Je später das Scheitern eintritt, desto sinnloser erscheint es, auch wenn der Schmerz größer ist bei den ersten Misserfolgen.

Formal richtig

Nicht wenige verstehen Dienstleistungen nicht mehr im Wortsinn: einen Dienst leisten. Sie betrachten sie vielmehr als Projekt, und sei es noch so kleines, das es anzugehen gilt, wie die lästigen Schulaufgaben früher: Hauptsache, sie agieren formal richtig, so dass niemand ernsthaft Anlass haben sollte zur Klage. Die Aufgabe ist in dem Augenblick erledigt, in dem man sich ihrer entledigt hat. Gleichgültig hingegen ist die Einstellung zu ihr, die noch im Wort Dienst anklingt: die Demut vor der Sache und denen, die sie betrifft, das liebevolle Engagement, der Respekt vor ihrer Größe, die Verpflichtung auf das, was sie implizit, und nicht nur ausdrücklich, fordert.

Tag- und Nachtbuch

Nirgendwo ist die Erinnerung so lebendig wie in einem erzählenden Tagebuch, das den Leser nie aus der innigen Verbindung zwischen Ereignis und Person entlässt.

Tiefstes Verstehen

Am Anfang und am Ende der Wortwelt existiert das Schweigen. Wer redet, hat beschlossen, es nicht dabei zu belassen. Wer aufgehört hat zu sprechen, begibt sich in eine Zone, in der um Deutungshoheit nicht mehr gerungen wird. Sie ist der Ort entweder absoluten Argwohns oder tiefsten Vertrauens: Du kannst sagen, was du willst – ich glaube dir nichts. Oder alles. Also kannst du es auch bleiben lassen.

Fehlende Worte

Dass Sprache nicht nur Wirklichkeiten schafft, sondern auf Realität sich auch bezieht, merkt sie in dem Moment, in dem ihr die Worte fehlen. Sie ist dadurch nicht sprachlos geworden, aber demütig gegenüber einer Welt, in der die Ereignisse gelegentlich zu groß sind, um sie in Begriffe zu fassen. Die Wendung: mir fehlen die Worte, beschreibt ein Empfinden, das sich zwar ausdrücken lässt, indem wir reden, dennoch weiß, dass über jeder Kommunikation die Interpretation steht. Sagen, was ist, ist schon schwer genug. Wissen, was es bedeutet, eine unendliche Aufgabe.

Ein freies Land

Aus einer Rundfunkansprache unmittelbar nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs

„Was ist ein freies Land? Es ist ein Land, in dem zwischen Staat und Einzelwesen eine wechselseitige Dienstpflicht besteht. In einem freien Land ist der Staat kein Götze: er ist eine notwendige Organisation, die ihre Notwendigkeit beständig zu rechtfertigen hat und von jedem einzelnen Bürger nur das verlangen darf, was ausdrücklich zum Wohle aller verlangt wird.“*

* Paul Valéry, Freie Völker und Sklavenvolk, in: Werke 7, 505