Kategorie: Allgemein

Worte, nichts als Worte

Aus dem noch ungeschriebenen Roman:

„Ich bin sprachsüchtig“ sagte sie und lächelte verlegen. Er war wieder einmal vorlaut gewesen, hatte sich über die vielen klugen Bücher belustigt, die sie in kleinen Türmen um sich herum auf dem Schreibtisch drapiert hatte wie die frühmittelalterlichen Hochbauten, die zum Schutz vor anrückenden Feinden in die Landschaft gestellt wurden. „Mich hat mal jemand so vorgestellt“, setzte sie noch einmal leise an, um den ungewöhnlichen Ausdruck zu erklären, „es war sehr liebevoll, vor einer kleinen Abendgesellschaft.“
Aber er war schon viel zu sehr in seinem Kampfmodus und konnte das gar nicht mehr richtig hören, wie er manchmal Sätze aufnahm, nur um sie zu widerlegen, um an ihnen einen überflüssigen Streit zu entfachen, gegen sie anzurennen im spitzen Wortgefecht, einem rechthaberischen Gedankenkrieg.
„Sprachsüchtig, aha. Das klingt wie eine Krankheit. Abhängig von Wörtern wie die Junkies von ihren Drogen.“ Aus jedem seiner wuchtigen Angriffe krochen Verletzung und Eifersucht hervor. Wie konnte ein anderer (welcher andere?) sie so genau erkennen – erkennen, ja, das verstand er Weiterlesen

Die Eigenheit des Eigentums

Wo der Unterschied zwischen Original und Kopie schwindet, wo es weniger um den Besitz geht als um Zugang zu einer Sache, wo Share Economy oder Open Source das gesellschaftliche Leben bestimmen, muss eine neue Lesart gefunden werden für den alten Satz des Grundgesetzes: Eigentum verpflichtet. Denn in dem Maße, wie es auf dem Spiel steht und mindestens als geistiges kaum noch zu schützen ist, stellt sich die Frage, ob es auch eine Verpflichtung – nicht nur des Eigentums, sondern – zum Eigentum gibt.

Als Politiker noch Hallodris waren

Theodor Heuss, unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Kultusminister in Württemberg, nahm teil an einer Konferenz seiner Kollegen, allenthalben gestandenen Schulmännern, die sich über die Charaktererziehung der Jugend den Kopf zerbrachen. Als es ihm in der Runde zu bieder wurde, unterbrach er den ernsten Redefluss und meinte: „Im Lehrplan fehlt Allotria.“ Es sei ein „viel belachtes“ Wort, aber eine entscheidende Kraft für die Menschenbildung. – Angesichts der vielen Hallodris in der Politik, die heute täglich ihren sachfremden Unfug treiben, wünschte man sich allerdings inzwischen mehr Charakter, Bildung und Ernst im öffentlichen Handeln.

So hört sich der Sommer an

Sommer, Sonne, Ohrenpein: Die wärmste Jahreszeit ist unter den Quartalen auch die lauteste. Wegen der Hitzewelle rumpelt die Müllabfuhr schon um kurz nach sechs durch die kleine Straße. Wenig später bekommen Nachbars Hecken ihren Formschnitt verpasst mit einer kreischenden Benzinsäge. Den Gärtner stört’s nicht, er trägt Ohrenschützer. Allüberall wird gebaut, hier geht es an die Kellerwände mit Hammer und Meißel, dort wird die Veranda saniert. Die heiße Witterung lässt Akkordarbeit zu. Erntemaschinen fahren bis weit nach Mitternacht durch die Felder und schneiden das Heu. Grillfeste enden in den frühen Morgenstunden in bierseligem Gegröle und scharfem Flaschenklirren. Schlaftrunken wünscht sich der so Gestörte nur noch eines: Regenschauer, Eiseskälte und Ohrenlider.

Richtig gestrickt

Wer sich in den Erwartungen nicht täuscht, muss über die Erfolge nicht lügen.

Trockenreinigung fürs Denken

Wozu Philosophie?* Am besten löst man dieses ganz und gar unphilosophische Problem spielerisch:

* „Höre ich die Frage Wozu Philosophie?, greife ich – einem unweisen Rat des dubiosen Dramatikers Hanns Jost zufolge – nach meinem Revolver, um festzustellen, dass ich keinen besitze.“ – Hans Blumenberg, Zu den Sachen und zurück, 13

Geheimdiplomatie

Unter allen Wörtern beschreibt „Überforderung“ jene verbotene Zone politischer Rede, die sich keiner zu betreten traut, weil er weiß, dass mit dem Eingeständnis, man habe die Lage nicht im Griff, der Umgang miteinander entweder unmöglich wäre oder ehrlich sein müsste. Überfordert zu sein, ist die geheime Voraussetzung des europäischen Pragmatismus.

Das andere Geschlecht

Frauen, MännerDas Problem: „Sieh mal, deine Mutter und ich, wir sind ja auch nicht von Natur aus alt – also alt auf die Welt gekommen. Und da ist es… , gerade, wenn man jung ist… Das ist ganz natürlich, also das Körperliche. Männer sind… und Frauen auch. Überleg dir das mal. Gerade weil ich es gut mit dir meine. Haben wir uns verstanden?“ (Loriot, Pappa ante portas)

Die Lösung? Tetragamie, ein von Schopenhauer geprägter Begriff. Er entstammt einer Skizze zu einem verschollenen Aufsatz aus dem Jahr 1823, die der Philosoph „Brieftasche“ titulierte, und meint die „Ehe zu viert“. „Indem die Natur die Zahl der Weiber der der Männer nur knapp gleich machte und dennoch den Weibern eine nur halb so lange Zeit hindurch die Fähigkeit zur Zeugung und Tauglichkeit für den Genuss des Mannes verlieh, hat sie das Geschlechtsverhältnis schon in der Anlage derangiert. Durch die gleiche Zahl scheint sie auf Monogamie zu deuten; hingegen hat ein Mann an einem Weibe nur für die halbe Zeit seiner Zeugungsfähigkeit Befriedigung: er müsste also eine zweite nehmen, wenn die erste verblüht ist; aber es ist für jeden nur eine gerechnet worden. Was dem Weibe an Dauer der Geschlechtstauglichkeit abgeht, hat es wieder an Maß derselben voraus. Es ist fähig, zwei bis drei tüchtige Männer zu gleicher Zeit zu befriedigen, ohne zu leiden. In der Monogamie benutzt es nur die Hälfte seiner Fähigkeit und die Hälfte seiner Wünsche. Sollte nun dieses Verhältnis nach bloßer physischer Rücksicht … geordnet und bestmöglich ausgeglichen werden, so müssen zwei Männer stets ein Weib zusammen haben, die sie beide jung nehmen. Nachdem diese verblüht ist, nehmen sie eine zweite, ebenso junge dazu, welche dann ausreicht, bis beide Männer alt sind … In der Monogamie hat der Mann auf ein Mal zuviel und auf die Dauer zu wenig; und das Weib umgekehrt.“

Das Gesetz: „That’s what I love about these high school girls, man. I get older, they stay the same age.“ (Matthew McConaughey als David Wooderson, in: Dazed and Confused, dt.: Confusion – Sommer der Ausgeflippten, Regie und Drehbuch: Richard Linklater, 1993)

Täusch‘ dich nicht

Der leise Zweifel, der immer mit dem Wunsch einhergeht, ein tief empfundenes Glück möge lang anhalten, gründet im Wissen, dass Menschen die Ewigkeit nur als ständige Wiederholung erfahren. Als bloßes „Seitenstück der Zeitlosigkeit“* verliert diese aber von Mal zu Mal ihren frühen Reiz.

* Georg Simmel, Philosophie des Geldes, Gesamtausgabe 6, 363

Aus den Aufzeichnungen des unglücklichen Kaufmanns

Er konnte sich nie davon befreien, „anbieten“ nicht auch für „anbiedern“ zu halten.

Mehr als nützlich

Wer immer nur etwas tut, um anderes zu tun, findet irgendwann jenes andere nicht mehr, das sich nur einstellt, wenn man etwas lässt.

Erzähl‘ doch mal

Nichts eignet sich so sehr zum Erzählen wie eine Strategie. Jenseits von begrifflicher Schärfe und genauer Dateneinsicht ist sie vor allem eine folgerichtig entwickelte Geschichte.

Die Seele des Unternehmers

Auf die Frage, ob er in einem einzigen Satz seine Profession beschreiben könne, sagt der Unternehmer ohne zu Zögern: „Ich bin ein grenzenloser Optimist.“

Sprachbilder

Die Tagesrationen bekommen in vier Wochen einen Komplementärband. In ihm sind alle hundertfünfzig Wörter aus dem „Alphabet des Lebens“ noch einmal geordnet aufgelistet, diesmal nicht interpretiert durch einen Text, sondern durch ein Bild: „Eine Illustration ist in dem Maße gelungen, wie sie es schafft, den Betrachter zu verführen, über sie hinauszugehen; eine Wortwendung glückt, wenn sie den Leser dazu bringt, der Welt genauer oder überraschender zu begegnen.“ *

Anerkennung

*Aus: Sprachbilder. Ein illustriertes Alphabet des Lebens. Das Buch erscheint am 21. Juli 2015

Zum Scheitern verurteilt

Das Ansehen eines Menschen als Vorbild ist die gefährlichste Art der Anerkennung. Wo einem Ideal zugeschrieben wird, gleichsam real zu sein, kann es nur scheitern.

Amour fou

Wer liebt, hat Recht? Kein Satz ist falscher. Denn die Liebe ist der Kosename für die Anarchie der Seele.

Wohl bekomm’s

Jeder gute Geschmack braucht den kleinen Fauxpas, vor dem er sich öffentlich ekelt: Der Sternekoch isst mit Vorliebe den pappigen Hamburger; in der Wohnung der Edeldesignerin findet sich der alte Nähmaschinentisch vom Dachboden; der Pastor, ein sonst brillanter Redner, biedert sich an mit aufgesagten Floskeln der Jugendsprache; auf dem Sportwagen aus der feinen Ingenieursschmiede findet sich der Syltaufkleber; die maßgefertigten Budapester sind seit Wochen nicht geputzt.

Wir Idioten

Nach der „Ode auf ein Durchschnittsjahr“ nun die wunderbar boshafte Hymne auf unsere Vorurteile. Magnus von Keil über verklemmte und beklemmende Formen von Toleranz:

Lebendiges Denken

Das Denken lebt davon, dass es sich auf die verstörende Differenz von Wort und Welt verlassen kann.

Unbedingt

Was den christlichen Glauben auszeichnet: dass in ihm Vergebung gewährt wird, ohne dass zuvor um Entschuldigung gebeten werden muss.
(Beim Anschauen der Anhörung des mutmaßlichen Attentäters von Charleston und seiner Konfrontation mit den Angehörigen der Ermordeten – die ihm verzeihen.)

Herr und Knecht

Eine Sprache meisterlich zu sprechen bedeutet, erkannt zu haben, dass man sie nie werde beherrschen können.

Beim Optiker

Nicht nur beim Augendefekt der Hyperopie, sondern oft auch bei jener als Weitsicht bezeichneten Begabung, folgenreich und grenzüberschreitend zu denken, geht der scharfe Blick ins Fernste einher mit einem Hang, das Allernächste zu übersehen. Die Deuter des Großen-Ganzen irren meist im Detail.

Ach was

Anruf beim Kollegen. „Nein, was für ein Zufall. Gerade haben wir über Sie gesprochen. Und Sie werden’s nicht glauben: auch Gutes.“

Nicht zuviel

Jedes lebendige Gespräch ist zwischen zwei tödlichen Enden aufgespannt: den beiden Formen des Schweigens, sich nichts zu sagen zu haben (als Inbegriff des Unverständnisses) und sich nichts sagen zu müssen (als Inbegriff des Einverständnisses).