China feiert die Bombe

Aus einer Samstagslektüre

„Die erste chinesische Atombombe detonierte am 16. Oktober 1964 bei Lop Nor in der Wüste Gobi. Die Seidenstraße hatte durch dieses Gebiet geführt und Zentralchina über die weiten Kontinente Europas und Asiens hinweg mit der Mittelmeerküste verbunden. Durch diese unfruchtbare und unbewohnte Wüste waren einst Seide, Gewürze, Edelsteine, Kunst und Kultur mit all ihrer Pracht und Herrlichkeit transportiert worden – ein Austausch, der die alten Kulturen angeregt und ihnen neues Leben eingehaucht hatte. Lop Nor hatte also schon zahlreiche Anstöße und Anregungen erfahren. Nun, fast zwei Jahrtausende später, war es die Wiege für einen anderen ,großen Knall‘, einen von Tod und Zerstörung.
Das Atomtestgelände war ursprünglich von den Sowjets ausgewählt worden. Dort hatten Ingenieure der Armee, Wissenschaftler und Arbeiter jahrelang in Lehmhütten und Zelten in völliger Abgeschiedenheit gelebt und Sandstürmen, glühender Hitze und eisigen Winden getrotzt.
Am Tag der Detonation wartete Mao auf den bedeutenden Augenblick in seiner Suite in der Großen Halle – die auf den Namen  ,des Volkes‘ getauft war, obwohl sie für jeden, der nicht eingeladen war, unerreichbar war. Sie lag am Platz des Himmlischen Friedens nur einen Steinwurf vom Regierungsviertel Zhongnanhai entfernt und war so gebaut, dass sie jeder Form von Militärangriff widerstehen würde; es gab sogar einen Atombunker. Die Suite, die ganz auf die Wünsche Maos zugeschnitten war, trug im Rahmen der üblichen Geheimnistuerei den Codenamen Suite 118. Mao konnte sie direkt mit dem Auto erreichen. Innen führte ein Fahrstuhl zu einem Fluchttunnel, breit genug für zwei Lastwagen nebeneinander, der zu den unterirdischen Militärzentralen am Stadtrand von Peking verlief. Direkt neben der Suite befand sich die Bühne eines gigantischen Auditoriums, sodass Mao auftreten und wieder gehen konnte, ohne engen Kontakt zum Publikum aufnehmen zu müssen.
An jenem Tag warteten neben Maos Suite 3000 Darsteller, um ein musikalisches Ausstattungsstück ,Der Osten ist rot‘ zur Aufführung zu bringen; es war von Chou En-lai inszeniert und sollte den Mao-Kult fördern. Der Titel war der ,Mao-Hymne‘ entnommen worden:

Der Osten ist Rot,
Die Sonne ist aufgegangen,
China hat einen Mao Tse-tung geboren.
Er hat sich dem Wohle des Volkes verschrieben,
Er ist des Volkes großer Retter.

Sobald bestätigt war, dass der Test erfolgreich verlaufen war, setzte die Musik ein, helle Lichter erstrahlten und Mao trat breit lächelnd auf die Bühne, flankiert von der gesamten Parteispitze. Er winkte den 3000 Darstellern und gab Chou En-lai ein Zeichen zu reden. Chou trat vor die Mikrofone: ,Der Vorsitzende Mao hat mich gebeten, euch eine gute Nachricht mitzuteilen…‘ Dann verkündete er, dass die Atombombe gezündet worden war. Die Menge schwieg; die Zuschauer wussten nicht, wie sie reagieren sollten, man hatte ihnen keine Anweisung erteilt. Chou half nach: ,Ihr könnt nach Herzenslust jubeln, springt nur nicht durch die Decke!‘ Woraufhin alle zu schreien begannen und in offensichtlicher Hysterie auf und ab hüpften. Mao war der einzige Staatschef auf der Welt, der die Geburt dieses Monsters der Massenvernichtung mit einem Festakt feierte. Für sich verfasste er einen zweizeiligen Knittelvers:

Atombombe geht los, wenn man es ihr sagt.
Ah, welch grenzenlose Freude!“*

* Jung Chan, Mao, 632f.