Vielleicht die klarste Definition von Zivilisation: Anerkennung von Macht, die sich zuvor nicht als Gewalt hat beweisen müssen.
Glück des Alters
Auch das Glück des Alters stellt vor eine Wahl: Selber gesund zu sein, so dass man den kranken Freunden links und rechts mit Tat und Kraft zur Seite stehen kann; oder selber krank zu sein und sich daran zu erfreuen, dass links und rechts Freunde stehen, die einem zur gefälligen Stärkung nicht von der Seite weichen. Was schöner ist? Von Maladen nichts hören und die Malaisen nicht spüren zu müssen.
Rücksicht
Das Wort „Rücksicht“ täuscht, weil es als Haltung genommen wird, in der das Auge sich aufmerksam engagiert. Stattdessen sollte diese Geste akustisch genommen werden. Sie ist die Anerkennung des stillschweigenden Anspruchs, den inneren Fluchtort von Menschen unangetastet zu lassen, der durch Lärm, Geschwätz oder Wichtigtuerei als letztes Seelenasyl bedroht ist.
Hässliche Wahrheit
Es gibt Sätze, die sind zu wahr, um schön zu sein.
Stärken und Schwächen
Nicht ihre Stärke macht Menschen gefährlich, sondern Verlegenheiten, Peinlichkeit, Scham, Niederlagen. Die Größe der Ohnmacht bestimmt das Ausmaß ihrer Unberechenbarkeit.
Die Weltfremdheit des Dünkels
Dünkel entsteht, wenn das Denken sich für so überlegen hält, dass es seine Weltfremdheit noch als Vorzug unter die Leute bringen will.
Mitten im Sturm
In politisch stürmischen Zeiten kann gesellschaftlicher Stillstand, über den alle Welt sich aufregt, den Anschein erwecken, als sei da jemand besonders standhaft. Sich nicht umwerfen zu lassen ist nicht einmal ein schaler Ersatztitel für den, der Umwerfendes angekündigt hatte. Beharrlichkeit kann von beidem künden: von Prinzipientreue wie vom Starrsinn.
Geschichtenerzähler
Das unterscheidet die Autobiographie von der Lebensbeschreibung durch andere, dass sie sich die Freiheit herausnimmt, die eigenen Geschichten stets neu und anders interpretiert erzählen zu können. Nicht einmal stimmig müssen sie sein, wenn sie denn zur Unterhaltung und gelegentlichen Belehrung beitragen. Deutungshoheit über das Persönlichste ist der klarste Ausdruck dafür, dass Menschen stets mehr sind als das, was sie sind, um das zu sein, was sie sind.
Unerfüllt
Das Schönste, was einer unentsprochenen Hoffnung passieren kann, ist, dass sie, statt sie in das Gefühl der Frustration umschlagen zu lassen, gesammelt wird mit all den anderen Erwartungen, den vergeblichen wie den genau erfüllten, und so den Quell bildet für eine belastbare Form von Zuversicht. Die ist nichts Illusorisches, Utopisches, sondern mutet jeder Enttäuschung zu, sich über sich selbst zu erheben zugunsten eines neuen Anfangs.
Ethik und Moral
Nicht selten geht einer Moral, die sich auf Entrüstung stützt, die Puste schnell aus, sobald man sie nach ihren ethischen Voraussetzungen fragt. Es ist ein himmelweiter Unterschied, ob ich mich mit meinen guten Absichten und hehren Ansprüchen über andere erhebe, oder in den Tiefen des Denkens nach jenen guten Gründen forsche, die Handlungspflichten belastbar machen.
Aufrüstung
Gewalt erzeugt, sofern sie mit Gegenwehr rechnen muss, immer ein Steigerungsverlangen. Jede Erwiderung rechnet nicht nur ab mit der erlittenen Zerstörung und reagiert im selben Maß. Sie kalkuliert vielmehr den Schmerz ein, der mit der Destruktion einhergeht, und antwortet stets so, dass sie mit allen Mitteln verhindern will, dass sich das Leid wiederholt. So folgt Schlag auf Schlag, wobei der jeweils nächste sich nie nur orientiert an dem, dem man gerade einstecken musste, sondern sich ausrichtet an allen künftigen, die zu verhindern sind. Das geht wider alle Vernunft so lang, bis zwischen Erschöpfung und Vernichtung kaum noch unterschieden werden kann.
Der öffentliche Blick
Die doppelte Beobachtung – zu wissen und zu wollen, bei der Selbstbeschau gesehen zu werden –, auf ungezählten Bildern medial einflussreich dokumentiert, die aufgenommen sind während eines prüfenden Blicks in den Spiegel, verändert unsere Vorstellung von Schönheit hin zum Ideal der Makellosigkeit. Ästhetik wird reduziert auf die schlichte Kunst kosmetischer Perfektion, die, weil sie Masse produziert, zugleich die Ödnis mitliefert, die dem Ungebrochenen, Übertünchten, Gleichmäßigen anhaftet. Das hat mit Schönheit nichts zu tun, die eher ins Charakterfach gehört als zum Handwerk der Aussteller.
Ordnungssinn
Der Ordnungssinn ist eine Funktion des Raumgefühls. Das Wort „Räumen“ nimmt diese Grundbeziehung sinnfällig auf und spielt mit der Idee, alles müsse an seinen angestammten Platz, als gebe es ein Koordinatensystem, in denen Dinge sich fest verorten. Dabei verändert sich das Bedürfnis, Klarheit in der eigenen Umgebung zu schaffen, wie sich auch die Einteilung des Raums gelegentlich wandelt. Abhängig von der Tagesform, von Stimmungen oder Lebenssituationen empfinden wir Büchertürme auf dem Schreibtisch als notwendige Einhegung allzu fahriger Gedanken; dann wiederum erscheinen sie wie hohe Mauern, die den freien Blick hindern, als müsse er bis zum Horizont reichen und der Arbeitsort hat leer zu sein. Heute künden Manuskriptblätter auf dem Parkett von schöpferischen Stunden; anderntags nervt das papierne Chaos, die beschriebenen Versuchsseiten verschwinden in der Schublade, oft auf Nimmerwiedersehen. So viele Ordnungsprinzipien es geben mag, die Ordnung selber ist kein Prinzip.
Er, Sie, Es
Als ob die Geschlechterdifferenz klarer und eindeutiger sei, wenn sie nicht mehr als natürliche, als biologische Voraussetzung verstanden ist für kulturelle Vorstellungen, sondern umgekehrt durch kulturelle Zuschreibungen die Vielgestalt einer „zweiten“ Natur ausgedrückt wird. Zum Leistungsspektrum begriffsbildender Sinndimensionen gehört, alles zu überbieten, zu kritisieren, zu befragen, was sich für selbstverständlich und unfraglich hält. Wohl wahr. Umgekehrt aber auch, das höchst Individuelle, so gar nicht Anpassungswillige in allgemeinen Kategorien, manchmal schlichten Unterscheidungen beschreibbar und vermittelbar zu halten. Das ist zwar ungerecht, aber hilfreich.
Pass bloß auf!
Bei allem, was es an Gemeinschaft zu leben errichtet und einrichtet, hat das Recht dennoch einen lebensfeindlichen Zug. Indem es antizipiert, was schiefgehen könnte, hindert es das, was Handeln menschlich macht: Spontaneität und Phantasie, Unbedarftheit oder Unmittelbarkeit, das Wilde wie das Vieldeutige. Jede List, die das Gesetz schlau unterläuft und in die Defensive zwingt, erscheint zugleich als leiser Triumph zugunsten regelsprengender Vitalität. Recht, noch bevor aus ihm ein endgültiges Urteil gezogen wird, hat selber zuweilen den gestrengen Charakter eines Gefängnisses.
Bin ich das wirklich?
In allen Erwägungen, die Lebensentscheidungen begründen, findet sich jenseits der Fragen: Will ich das? Kann ich das? Soll ich das? die eine wesentliche: Bin ich das wirklich?
Selbstvergewisserung
Das ist wohl die Hauptaufgabe der Erinnerung: dass mit der bruchlosen Geschichte eines Lebens, das Gefahren schadlos bestanden hat und in dem sich Hoffnungen überraschend erfüllten, sich die Gegenwart ihrer selbst vergewissert als die Zeit, die noch viel vor sich hat. Das Gedächtnis macht die Perspektiven eines Daseins belastbar. Es ist eine der wichtigsten Funktionen der Zukunft, nicht nur das Medium, über das die Vergangenheit sich äußert.
Anklage und Verteidigung
Die Rhetorik des Vorwurfs unterscheidet sich grundsätzlich von der einer Verteidigung. Und lässt sich am einfachsten so beschreiben: Wer anschuldigt, erhöht den Druck auf sein Gegenüber im Maße, wie er viel vorbringt, wohingegen bei einer Rechtfertigung es oft schon als Indiz eines schlechten Gewissens genommen wird, wenn einer lang und ausführlich spricht. Die Regel lautet: Rede ohne Punkt und Komma bei der Anklage; sei knapp und präzise in der Defensive.
Markenbildung
Es kommt nicht selten vor, dass die Frage, wer einer ist und was er sein will, ihm überhaupt erst Klarheit verschafft, wer er ist und was er sein will. Gibt es eine Identität ohne das Bewusstsein von ihr? Oder gar: Gibt es nur Identität, wo die Reflexion über sie noch nicht provoziert wurde, in der Selbstverständlichkeit des Daseins und Soseins?
Zu sich finden
Erfahrung lehrt, dass viele, die „etwas werden wollen“ im Bemühen, das zu sein, sich selbst verlieren. Die große Kunst, eine eigene Identität zu entwickeln, besteht darin, von sich gerade so weit absehen zu können, dass man bei sich bleibt, sich in den Aufgaben der Welt vorbehaltlos zu engagieren, in der Gewissheit, sich gerade so zu entdecken. Es war Hegel, der dieser Lebensanstrengung die logische Struktur gegeben hat: „Die Identität, statt an ihr die Wahrheit und absolute Wahrheit zu sein, ist daher vielmehr das Gegenteil; statt das unbewegte Einfache zu sein, ist sie das Hinausgehen über sich in die Auflösung ihrer selbst.“ (Wissenschaft der Logik 1, Kap. Identität, Anm. 2)
Erfreulicher Blauton
Die deprimierenden Bilder aus den Stätten ungebremster Zerstörungswut, die verwaiste und verbrannte, graue Ruinen zeigen, Orte, in denen Menschen vor nicht allzu langer Zeit fröhlich Feste begangen haben, an lauten Marktständen Waren gehandelt wurden, lassen mit der Sehnsucht nach Weisen unbeschwerter Lebendigkeit gerade in ihrer Negation genau aufscheinen, was es ist, das Freiheit anschaulich symbolisiert: das Zusammenspiel von Farben und Formen.
Was das Spiel entscheidet
Den Kampf zwischen Zufall und Notwendigkeit, dem Unvorhersehbaren und der Berechenbarkeit sieht man nirgends anschaulicher als im Fußball. Die Kugelform, mit der sich der Part menschlicher Extremitäten auseinandersetzen muss, der am wenigstens geeignet zu scheint für die Präzisionsbehandlung des Spielgeräts, sorgt dafür, dass letztlich den Ausgang der Auseinandersetzung zweier Mannschaften niemand vorauszusagen vermag. Auch wenn die Wahrscheinlichkeit, wer gewinnen wird, beschränkt zu kalkulieren ist, konzentriert sich der Wettkampf darauf, diesem Kontingenzförderer Ball nicht ausgeliefert zu sein und selber zum „Spielball“ seiner Schicksalhaftigkeit zu werden. Erfolgreich zu sein bedeutet, dass das Ich (der Spieler) das Launische des Es (die unberechenbare Kugel) so bezwingt, dass ein Wir (das Team) zum Zug und zu Spielzügen kommt, die einem zielsicheren Plan entsprechen. Zum ästhetischen Ideal arbeitet sich diese anstrengende Kunst heraus, wenn am Ende der Ball wie selbstverständlich durch die Reihen rollt. Denn wie lautet Dr. Kossuths Regel Nr. 1 im Roman des englischen Schriftstellers Joseph Lloyd Carr: „Man kann den Ball ohne Weiteres spielen, ohne auf seine Füße zu schauen. Frauen müssen beim Stricken auch nicht auf ihre Hände gucken.“*
* Wie die Steeple Sinderby Wanderers den Pokal holten, 41
Hoffentlich
Hoffnung ist so lange keine leere Worthülse, wie mit der Erwartung des Besseren der Wille zur Veränderung einhergeht.
Handlungszwang
Das erste pragmatische Axiom in einer Krisensituation lautet: Man kann nicht nicht handeln.