Man kann so manchem Streit aus dem Weg gehen, wenn man den Anschein von Böswilligkeit, mit dem er entfacht wird, als ein Zeichen von Überforderung nimmt.
Achtung
Das allzu deutsche Wort „Achtung“ bedeutet Vorsicht und Rücksicht gleichermaßen. Das mag sich im Respekt niederschlagen als der Fähigkeit, Fremdem ohne Angst zu begegnen.
Keine Umstände
Im ernsten Bemühen um Objektivität versucht jede Statistik, das höchst individuelle Erkenntnisinteresse dessen, der sie ermittelt hat, schon bei der Frage, die zu untersuchen ist, auszuschalten. Die wird in der Regel so allgemein gestellt, dass sie niemanden in die Verlegenheit führen will, auf sie mit persönlich gefärbten Geschichten zu erwidern. Auch die ergäben zwar ein Bild der Umstände, ein viel plastischeres gar, aber sie erlauben eines nicht: den Vergleich und die aus ihm gezogene Bewertung. Nicht zufällig zeigt die Statistik darin ihre Nähe zur Geldwirtschaft, die ihrerseits alle Abstraktheit nutzt, um Entferntes in eine Konkurrenz zu zwingen, aus der sich leicht eine Rangfolge ermitteln lässt: vom Preisvergleich bis zum Schätzwert. Das kulturelle Unbehagen an der Statistik, das sich im Verdacht artikuliert, sie sei prinzipiell geistlos, darf sich auf diese Verwandtschaft berufen.
Der letzte Stadtcowboy
An diesem Samstagmorgen kämpft die Frühlingssonne mit dem winterlichen Nachtfrost um die Vorherrschaft jenseits der Nullgradgrenze. Ihre noch schwachen Strahlen spiegeln sich stumpf im Basaltpflaster vor dem Brunnen. Man ahnt die Wärme, zu der sie später am Tag fähig ist, wenn der Platz sich gefüllt haben wird. Ein frischer Espresso im Pappbecher gibt den klammen Fingern kurz das Gefühl von Behaglichkeit, bevor sie sich wieder in den dicken Handschuh verkriechen. Der letzte Cowboy der Metropole, mit Stetson und Jeans, ist auch schon auf den Beinen und nestelt zwischen den Stufen der Sandsteintreppe am Rathaus herum; er sammelt das Glitzerpapier ein, bunt und in Herzform, das übrig ist vom Glücksregen, der über dem gestern im Amt getrauten Paar niedergegangen war. „Ich sammele Herzen“, brummt er wiederholt in sich hinein. Da kreuzt, laut und mit heiserer Stimme, ein zweiter Großstadtnomade die Spur und ruft im Singsang, vom Widerhall der Fachwerkhäuser ermuntert: „Ich bin der Verteidigungsminister von Japan, bi scho hi“ – was auch immer das bedeutete. Der Cowboy schaut kurz auf den weißhaarigen Kollegen des Selbstgesprächs, drückt ihm eines der Papierherzen in die Hand und sagt: „… damit du nicht auf dumme Gedanken kommst“. Dann geht jeder friedlich seiner Wege.
Wir Verhinderer
Ein Leben ohne Unbedarftheit ist nicht nur äußerst anstrengend. Es macht vor allem nicht froh, weil es sich nicht frei anfühlt. Wo eine gestrenge Sprachpolizei sich reflexhaft auf den Gebrauch von „bösen“ Wörtern stürzt und sie als unmittelbare Repräsentanten von Geist und Haltung nimmt, bleibt für Doppelbödigkeit, Doppelsinn, Zweideutigkeit und Zweifel, Fragwürdigkeit und Fraglosigkeit, für Witz oder Ironie, Flirt und Augenzwinkern kein Platz. Das Ziel ist der Rufmord des oder der einen und die Einschüchterung aller anderen. Moralische Korrektheit tritt nicht ein für das Recht der Zukurzgekommenen und Schwachen; sie gibt das vor, um das eigene Ressentiment zu tarnen. Wer die Formen der klaren Auseinandersetzung und des gebildeten Streits nicht kennt, reduziert Meinungsdifferenz auf das entrüstete Geschrei hier und die vorschnelle Entschuldigung dort, ohne der Sache zu dienen. Nicht alles, was wie Verletztheit klingt, hat den Anspruch, jenseits von individueller Empfindlichkeit Bedeutung zu erlangen; nicht jede Erläuterung, die das tiefe Bedauern wiederholt, kennt die ehrliche Zerknirschung. Am Ende spielen sich Heuchelei und Abstraktheit in die Hände. Die hohle Anklage und die noch hohlere Abbitte werden übertrumpft von einer hölzernen Sprache, die vor lauter Angst, das Falsche zu sagen, sich in Abkürzungen ergeht: POC, LGBTIQ, cis, N-Wort, m/w/d, FINTA oder FLINT, TERF, CAFAB und CAMAB. Der Kampf gegen den Alltagsrassismus verlangt ein höheres Niveau.
Mit
In einer Demokratie kommt alles darauf an, dass das elementare Bedürfnis mitzureden von zwei Seiten sinnvoll begrenzt wird: durch die Anstrengung mitzudenken und die Pflicht mitzugestalten.
Komm mir bloß nicht zu nah
Künste wie die Architektur oder die Rhetorik, die seit alters das Verhältnis von Nähe und Distanz austarieren, stehen in einer Welt, die sich einübt in lebensverträgliche Arten des Abstands, vor der Aufgabe, neue Spielräume zu definieren, im Bau wie in der Rede. Wie müssen Plätze gestaltet, Stadien konstruiert, Kaufhäuser, Kirchen, Konzertsäle geplant und Parks oder Innenstädte angelegt werden, in denen das aufgekommene Unbehagen an der Unmittelbarkeit in anmutige Formen übertragen ist, so dass Menschen sich versammeln können, ohne gleich eine Menschenansammlung bilden zu müssen? Die Sprache wiederum kennt sich bestens aus mit dem Feinsinn von Unterscheidung und Berührung, Weite und Beziehung, an dem sie ihre Wirkkraft entfaltet und von dem sie ihre Erfindungsgabe fordern lässt. Denn sie weiß, was im Sozialen ein offenes Geheimnis darstellt und oft dennoch in Vergessenheit gerät: dass Distanz nicht das Gegenteil von Nähe darstellt, sondern deren Voraussetzung. Was ließe sich für die gewinnende Rede, die anzieht und einnimmt, folgern, wenn sie nicht mehr auf die Masse zielt, obwohl sie eine Mehrheit erreichen will? Es sind, hier wie dort, schönste Aspekte souveräner Individualität denkbar.
Treppauf, treppab
Es ist ein verlässliches Zeichen für den Niedergang eines Politikers (der ja nicht mit dem Verlust seiner Fähigkeiten einhergeht wie in der Formkrise des Sportlers oder der ruinösen Selbstdemontage eines Künstlers, sondern nur mit verweigerter Wählergunst), wenn das Publikum Ernstgemeintes verlacht und es ihm übelnimmt, sobald er sich vergnügt. Das Ende ist in dem Moment erreicht, da er sich über seine schlechte Behandlung in den Medien zu beklagen beginnt.
Leiden und Leidenschaft
Die Binnenstruktur der Passionsgeschichten im Testament: Es soll das größte Scheitern zum Zeichen taugen für das größte Gelingen (Luk. 11,29). Absurd zu sagen, aber dort, wo der Augenschein keine Wahl lässt, als zu meinen: das war nichts, dort könnte ein verständiger zweiter Blick entdecken, dass es um alles gegangen – und gut ausgegangen ist. Wenigstens die Dezenz, nicht vorschnell zu sein im Urteil, mehr noch die Vorsicht vor dem allzu Offenkundigen könnte jener verstörenden Botschaft entnommen werden, auf die hin jeder ihrer Sätze zustrebt, in dem sie umschrieben wird: dieser Tod bedeutet nichts als Leben.
Zu akademisch
Das Akademische als abschätziger Titel, als Schimpfwort der Pragmatiker, dieser artikulierte Unmut über allzu hochfahrende, alltagsferne Reflexionen hat sein Recht in der mit ihm verbundenen Erinnerung an eine tiefgreifende Störung der Lebenswelt. Jede Theorie lässt sich erklären als lang währende Rache, die sich einer ausdenkt, dem das Selbstverständliche gestohlen wurde. Nicht um es wiederzuerlangen, sondern um allen anderen zu zeigen, wie dumm sie sind, wenn sie meinen, ihnen sei das noch nicht passiert.
Das Haltbarkeitsdatum von Haltungen
Wie stark eine Meinung, wie ernsthaft eine Überzeugung, wie tief eine Einstellung ist, kurz: ob sie als Haltung taugt, das zeigt sich erst, wenn sie sich gegen die Mehrheit stellen muss.
Zur Sache
Man löst große Krisen, auch die persönlichen, immer nur sachlich. Nichts stört den Erfolg in Wendezeiten so wirksam wie Eitelkeit, Rechtfertigungsbedürfnis und Rechthaberei, Empfindlichkeiten oder Angst um das eigene Ansehen. Es ist ein gut beleumundetes Gesetz: Je nüchterner Schwierigkeiten angegangen werden, desto unbelasteter ist die Darstellung des Charakters nach deren Überwindung. Man zahlt nicht mit dem Persönlichen für das Sachliche; im Gegenteil: der Preis für den Zugewinn an Sachlichkeit ist, dass die Persönlichkeit gewinnt.
Viele Lieben, ein Leben
Als Anspruch an den einen Anderen kann die Absolutheit der Liebe nur ihr Unglück bedeuten. Als Erfahrung mit der einen Anderen kann das Glück der Liebe nur ihre Absolutheit fordern. Das Ärgernis des Plurals, dass die vielen, die es gibt und gegeben hat, die eine, nach der ewig gesucht wird, nie vorstellen, kann das Angebot des Plurals nicht trüben, dass der eine, der einst ausgewählt wurde und am Ende doch nie genügt, jederzeit zu ersetzen ist.
Ganz pragmatisch
Nicht selten entstehen große Antworten, wenn man sich die großen Fragen gar nicht erst stellt. Eine Politik ist, nicht nur in Krisenzeiten, erfolgreich in dem Maße, wie sie ihre natürliche Verwandtschaft zum schlichten Pragmatismus nicht hinter Parteilichkeit und Programmatik schamhaft verbirgt.
It‘s Team Time
Der Verzicht auf Formen geselligen Umgangs verdichtet die gemeinschaftliche Arbeit in einer Gruppe zu dem, was sie erfolgreich macht oder scheitern lässt. Wo die Tea Time ausfallen muss, beginnt die Team Time. Weil viele nicht mehr miteinander agieren in Zeiten des home office, kommt alles darauf an, dass Kollegen füreinander einstehen. Teams lassen sich vor allem negativ bestimmen: Sie sind jene sinnvoll gebildeten Einheiten gemeinsamen Wirkens, in denen das Misslingen des Ganzen als eine persönliche Niederlage erlebt wird. Die unbedingt zu vermeiden bezeichnet den Geist, der alle zusammenhält und ausrichtet, zwar nicht zureichend, aber diese Anstrengung gibt zuverlässig Auskunft über seine Bindungskräfte.
Die Welt retten
Der Menschen Los: Einig darin, die Welt zu retten, zerstreiten sie sich über der Wahl dessen, was als bewahrenswert angesehen wird.
An der Weggabelung
Wer die Krise nicht als Gelegenheit ergreift, endlich jene zähen Verfahren und starren Strukturen, überflüssigen Ämter oder veralteten Techniken, geistlosen Mächtigen wie ärgerlichen Privilegien loszuwerden, wer nicht alle Intelligenz einsetzt, Handlungsgeschwindigkeit, Orientierungsgewissheit und Seelenstabilität zu generieren oder wiederzuerlangen, wer sie nicht als ein Zeichen nimmt zum Ausbruch und Aufbruch in eine neue leichte Zeit, der hat sie noch nicht begriffen. Es gilt, dem Virus zu entkommen, indem man schneller agiert, als es mutiert.
Sag mal
Ob einer etwas zu sagen hat, merkt man am klarsten an seiner Fähigkeit zuzuhören. Der Ernst, den eigenen Geist, das Herz und die Sinne zu öffnen, spiegelt sich dann wider in der Kraft von Worten, die den Verstand der anderen erreichen und deren Handeln ermuntern.
Killerphrasen und Totschlagargumente
Gewaltfreie Kommunikation: Wer nur Phrasen drischt, den kann man mit Argumenten nicht schlagen.
Sinn und Verstand
Gelegentlich ist Gesinnung wichtiger als Sinn. Aber viel seltener, als man denkt. Das gilt auch für das Verständnis im Verhältnis zum Verstand, für eine Haltung, die sich ableitet aus dem Halt, den ein Mensch gefunden hat, für das Gewissen, das sich auf ein Wissen nicht immer berufen kann. Solange Moral als ein Sonderfall des Lebens angesehen wird, funktioniert sie. Im Alltagsgebrauch hingegen verkümmert sie zur lästigen Gängelei und überheblichen Machtgeste.
Verkehrter Aschermittwoch
Der Aschermittwoch, der im Festkalender eine Zäsur darstellt, der die Phase des Überschwangs und der prallen Lebenslust ablöst durch Formen der Besinnung, Umkehr, der Askese und der Konzentration auf Wesentliches, dieser Tag kann im Augenblick, da alles Augenmerk schon allzu lang auf Reduktion und konsequente Zurückhaltung, soziale Distanz und Einschränkung gerichtet ist, nur genommen werden als der Anfang einer neuen Zeit, in der die Lebendigkeit des Lebens und die Freude an ihr wieder ins Recht gesetzt werden.
Experten des Kompromisses
Wenn Wissenschaft auf die Politik trifft, begegnen einander zwei widerstreitende Ideale: Der radikale Wille zu Klarheit* fordert den Wunsch nach einem Kompromiss heraus.
* Vgl. Max Weber, Wissenschaft als Beruf, 32: „Ich bin auch hier versucht, wenn einem Lehrer das gelingt zu sagen: er stehe im Dienst ,sittlicher‘ Mächte: der Pflicht, Klarheit und Verantwortungsgefühl zu schaffen, und ich glaube, er wird dieser Leistung um so eher fähig sein, je gewissenhafter er es vermeidet, seinerseits dem Zuhörer eine Stellungnahme aufoktroyieren oder ansuggerieren zu wollen.“
Macht und Dummheit
Eines der erfolgreichsten Mittel, den Mangel an Intelligenz zu kompensieren, ist, auf den Stufen der Macht nach oben zu klettern.
Alter, was geht?
Wenn Selbstzufriedenheit und Sturheit, Kurzsichtigkeit und Perspektivmangel, Behäbigkeit und Bräsigkeit, das Oberlehrerhafte und die Einfallslosigkeit, Realitätsfremdheit und Dickfelligkeit, Ängstlichkeit und die Verklärung des schon Erreichten, nicht zuletzt der Wiederholungszwang, wenn das alles zuverlässige Kennzeichen mentaler Vergreisung sind, dann lässt die Seuche das politische Deutschland ganz schön alt aussehen. – Ein anderes Bild: Künstliche Intelligenz steuert kleinteilig, mindestens nach Landkreisen segmentiert, die Strenge sozialer Zurückhaltung. Die Corona-App löst einen akustischen Alarm aus, sobald eine Zone mit hoher Inzidenz betreten wird, und sendet automatisch eine Terminanfrage an das Testcenter; die Vergabe erfolgt unmittelbar elektronisch. Je nach Ergebnis der Diagnose informiert das Gerät alle relevanten Kontakte selbsttätig und bewacht durch Warnhinweise die Einhaltung der verordneten Quarantäne. Negative Schnelltests sind obligatorisch bei der Einlasskontrolle zu Großveranstaltungen vorzuweisen, gelten als Teil des Tickets bei Theaterbesuchen oder als Höflichkeitszeichen gegenüber den Gastgebern bei Familienfeiern. Man nutzt, was beim Einkauf im Netz, bei der Stauprognose im Straßenverkehr, der wissenschaftlichen oder journalistischen Recherche geschätzt wird: die Fähigkeit, Zukunft mit relevanter Gewissheit zu kalkulieren. Statt Gutscheine für Masken zu verteilen, unterstützt der Staat den Kauf von Smartwatches über Zuschüsse oder Steuererleichterungen. Und respektiert im Datenschutz, was eine der wesentlichen Bedingungen gesellschaftlich akzeptierter Digitalisierung ist: dass Berechenbarkeit eine Bedingung von Gestaltungsfreiheit darstellt, weil sie eine Eigenschaft von Vertrauenswürdigkeit ist. – Ist das naiv? Na klar, so wie es das Vorrecht eines jungen Geists ist, unbedarft sein zu können.