Monat: November 2015

Innen und Außen

Wenig ist persönlicher als Stilfragen.

Genau genommen

„Ich habe eine gute Nachricht für Sie.“
„Woher wollen Sie das wissen? Wenn die Nachricht für mich ist, kann auch nur ich bewerten, was Sie mir bedeutet.“

Willkommenskultur

Gartenzwerg als Scheinriese als Weihnachtsmann: das magische Dreieck der deutschen Mentalität.

Bochumer Bahnhofs-Mission: Der Gruß gilt allen, die sich auf den Weg begeben, um sich neu zu orientieren

Bochumer Bahnhofs-Mission: Niemand muss fürchten, ins Ungewisse aufzubrechen

Die Frage aller Fragen

Man versteht vieles besser, wenn man fragt: Wie lautet die Frage, auf die das, was ist, eine Antwort darstellt. Und welche anderen Antworten sind noch möglich?

Versuch und Irrtum

Die vorherrschende Ideologie der gegenwärtigen Regierungspolitik gibt sich pragmatisch und ist maßgeblich von der wissenschaftstheoretischen Grundannahme beeinflusst, nach der sich der Erkenntnisfortschritt über trial and error ereignet. Die Gesellschaft wird zum Versuchsfeld für allerlei Entscheidungsfolgen, die solange nicht in Frage gestellt zu werden brauchen, wie sie sich nicht falsifizieren lassen. Ob etwas wahr genannt zu werden verdient, was ehedem nur hieß, dass es die Probe aufs reale Exempel bestanden hatte, ob eine Sache strategisch anzugehen ist, sich an ersten Prinzipien orientiert – all das störte die politische Vernunft, die sich wie  Experimentalphysik verhält.

Kippfigur

Die großen Gefühle sind wie Vexierbilder. In ihnen steckt mindestens eine zweite Empfindung, die sich erkennen lässt, wenn man den Blickwinkel wechselt, mit dem man auf sie schaut. Hat man den einen Affekt genau gesehen, meint, ihn klar erfasst zu haben, trübt sich die Wahrnehmung ein: Durch ihn hindurch scheint nicht selten die gegenteilige Regung. So mancher abgrundtiefe Hass verbirgt geschickt die Verzweiflung, die sich in ihm ausdrückt und lässt nach langem Studium auch noch die unerfüllte Liebe entdecken, aus der er hervorquillt. Ist nicht der Neid eine  verbogene Form der Bewunderung? Und die Liebe heimliche Angst vor dem Alleinsein und der Zweisamkeit zugleich? Wer soll hier entscheiden? Es gehört zur Perfektion des Versteckspiels, dass sich weder dem Beobachter noch dem von seiner Leidenschaft Ergriffenen eindeutig erschließt, welche  Stimmung vorherrscht, ja in den meisten Fällen nicht einmal, dass da mehr im Gange ist als nur das Offenkundige. Man müsste eine reine Rhetorik der bedeutenden Emotionen entwickeln können, die alle Kunstgriffe, Tropen und Figuren einer Sprache des Innenlebens enthält: die Metaphern der Seele, die Paradoxien der menschlichen Beziehungen, die Ironie des ehrlichen Geständnisses, den Euphemismus hässlicher Sentiments …

Enthaltsamkeit 

Die größte Anstrengung des Denkens ist nicht, knifflige Probleme klug zu lösen. Sie besteht darin, sich eines Urteils zu enthalten, solange eine Sache nicht zureichend gut beschrieben ist. 

Das Publikum spricht mit

Jeder Beobachter ist ein heimlicher Kritiker. Jeder Handelnde ein versteckter Schuldner. Es ist kein Kunstkniff, die Wirklichkeit zu blamieren, wenn man sie konfrontiert mit dem, was möglich wäre und notwendig ist. Da fehlt immer etwas, da hat stets einer gefehlt. Ihre Überlegenheit zieht die Theorie daraus, dass sie in allen drei Modi das Hausrecht besitzt.

Mehr als das

Die Klarheit eines Willens, die Schlichtheit eines Gefühls und die Deutlichkeit einer Tat sind so schwer zu erreichen wie die Genauigkeit des Begriffs oder die Einfachheit der Idee. Die formalen Grenzen der Lebendigkeit heißen: Sowohl-als auch, Weder-noch und Entweder-oder. Zwischen ihnen haben wir uns zurechtzufinden.

Grammatik der Wut

Die Sprachlosigkeit der Sprachlosen: Wut.
Die Sprache der Sprachlosen: Gewalt.
Die Sprachlosigkeit der Sprechenden: Entsetzen.

Unvollendet

Die Kritikerin: „Ist dein neues Buch schon erschienen?“
Der Autor: „Ich schreibe daran.“
Die Kritikerin: „Es sind nicht die schlechtesten Werke, die sich lesen, als würde daran noch geschrieben werden.“
Der Autor: „Man schreibt besser, wenn man nicht immer daran denkt, den Text einmal zu publizieren. Das Wort behält so seine Unschuld.“
Die Kritikerin: „Werde endlich erwachsen.“
Der Autor: „Wie unromantisch.“
Sie: „Ach, du entwickelst eine Liebesgeschichte.“
Er: „Ich erlebe gerade eine.“
Sie: „Darf ich fragen, mit wem?“
Er: „Tu nicht so unschuldig. Werde endlich erwachsen.“

Alternativlos. Sprachlos. Leblos

„Nun sprechen die Waffen.“ Waffen sprechen nicht. Aber Worte können töten. Und Waffen Worte. Wo das Reden aufhört, herrschen Einverständnis, Erschöpfung oder Gewalt. Alle sind Formen des Totalen: Man kann nur ganz einverstanden sein, ist vollkommen erschöpft, will sich in seiner Wut nicht bremsen lassen. Daher: Solange wir uns verbal austauschen, gleich ob argumentierend oder beleidigend, kritisierend und fragend, laut wie diskret, hart, versöhnlich, formal, leidenschaftlich, ist eine Sache nicht zu Ende und muss anders nicht fertig gemacht werden.

Trotzdem lachen

Das gewisseste Kennzeichen eines freien Geistes ist, dass er Dinge sagen kann, die wirklich lustig sind. Andere zum Lachen zu bringen, zeugt nicht nur von spielerischer Intelligenz, sondern vom Vergnügen an der Unabhängigkeit.

Auf Brautschau

Der kleine Junge ist zum ersten Mal beim Friseur und versucht, seinen Respekt vor den Rasiermessern und Haarscheren sich nicht anmerken zu lassen. Mit Anlauf nimmt er auf dem Drehstuhl Platz, lässt sich den Umhang umbinden und schaut, seine großen Augen erwartungsvoll auf den Spiegel gerichtet, dass ihn niemand von hinten überrascht. „Na, wie alt bist du denn?“ Der kinderkundige Friseur eröffnet das Gespräch, das die lästige Prozedur ins Beiläufige rücken soll. Da wirft der Blondschopf seinen Kopf um und sagt mit ernster Miene: „Ich bin schon drei und ledig.“

Kriegserklärung

Aus dem Gedicht des Journalisten und Lyrikers Carl Sandburg The people, Yes wurde besonders die großzügig übersetzte Zeile bekannt: „Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin“. Sie galt in der deutschen Friedensbewegung der Achtzigerjahre als Leitmotiv und war auf vielen Plakaten der pazifistisch gesinnten Demonstranten zu sehen (oft fälschlich Bert Brecht zugeschrieben). Unter den veränderten Gefährdungen freier Gesellschaften in diesen Tagen mag eine leichte Abwandlung des Satzes die Situation genau beschreiben: Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner hat es gemerkt. Auch in Zeiten des systematischen Terrors müssen Kriege noch erklärt werden; aber vielleicht nicht so sehr einem Gegner als denen, die von ihm in die Gewalt hineingezogen werden.

Es ist Wahnsinn

Dass der Wahnsinn Methode hat, macht ihn nicht vernünftiger, sondern nur verrückter. Nichts ist gewalttätiger als jene Rohheit, die sich mit dem feinsten und schärfsten Talent des Denkens verbündet: der Logik.

Nur Wolf?

Unter den vielen Definitionen der Anthropologie fehlt die eine: Der Mensch ist das Tier, das es nicht schafft, dem Menschen gegenüber nicht zum Tier zu werden.

Entwicklungsgeschichte

In der Biographie eines Menschen kommen immer wieder jene Augenblicke auf, in denen er nicht mehr weiß, ob das Glück, das er empfindet, sein Unglück bedeutet, oder umgekehrt. Sich weiterzuentwickeln bedeutet: diese Unterscheidung für sich wieder einzuholen.

Ungelöst

Nur selten ist, was ein Rätsel bleibt, schon ein Geheimnis.

Surprise, surprise

Woran sich der Heuchler verrät: wenn er sich überrascht gibt bei einer Sache, mit der alle anderen längst gerechnet haben. Er ist zu dumm, um zu wissen, wann das Spiel ein Ende gefunden hat.

Bauherrenmodell

„Im Moment haben wir einen Baustopp“, berichtet der gute Bekannte genervt. Er erweitert gerade sein Eigenheim. Das Dach sei nur mit einer Plane bedeckt; im Schlafzimmer stehe ein Zelt, man schlafe auf Matratzen. Die Maschinen für den Ausbau der Gaube müssten ruhen, solange die Behörden nachdenken. „Ich lerne gerade, wer ein echter Freund ist“, gibt er als Erfahrung zum besten. – „Und, ist einer übrig geblieben?“ – Sein betretenes Schweigen lässt sich nur als Phantomschmerz werten.

Zu viel Zeit

Was den Müßiggang von der Muße unterscheidet: Er langweilt sich mit der Langeweile.

Traumfrau

„Ich habe von dir geträumt“, sagt er.
„Nein, du hast von dir geträumt“, antwortet sie.
„Aber ich habe dich gesehen und mit dir gesprochen“, widerspricht er.
„Alles deine Bilder“, erwidert sie spröde.
„Du bist eben meine Traumfrau“, lockt er.
„Das ist das Letzte, wovon ich träume“, entgegnet sie und verzieht sich in den Schmollwinkel der Wirklichkeit. „Ich will deine Realitätsfrau sein.“
„Schreckliches Wort“, spottet er.
„Schöne Vorstellung“, hält sie dagegen.
„Du träumst“, sagt er.

Hundert mögliche Taler

Durch nichts wird der Charakter von Besitz besser beschrieben als durch die Modalbegriffe: Eine hübsche Summe wird „Vermögen“ genannt, um ihren Wert zu qualifizieren, der nicht in ihr selbst liegt, sondern in all dem, was man sich mit ihr kaufen kann (und weil sie die Freiheit schenkt, sich für dies oder das ergreifend zu begeistern). Die Wirklichkeit des Geldes ist seine Fähigkeit, vieles zu ermöglichen. Als Eigentum hingegen, das nach staatlichem Gesetzeswillen verpflichtet, enthält seine verdichtete Realität die Notwendigkeit, sich mit ihm für das Gemeinwohl zu engagieren. Gerade wenn es für mich ist, ist es nicht für sich. Als Kant mit Hilfe der Modalkategorien nachweisen wollte, dass der überkommene große Gottesbeweis nichts taugt, schrieb er – um zu illustrieren, dass das Existenzprädikat „ist“ einem Begriff nichts hinzufügt – den berühmten Beispielsatz: „Hundert wirkliche Taler enthalten nicht das mindeste mehr, als hundert mögliche.“* O doch, möchte man entgegnen: Der Unterschied liegt in der Not wendenden Eigenschaft, die den realen Besitz dem potentiellen in toto überlegen sein lässt.

* Kritik der reinen Vernunft, A 599