Monat: Dezember 2015

Altjahresmorgen

Kein Gesetz ist wirkungsvoller als die alte Regel: „Das Leben geht weiter“. Der Satz bekommt in Silvester seinen Feiertag und nutzt die Gunst der Stunde, um den Pessimismus der Menschen ein für allemal der Lächerlichkeit preiszugeben.

Das Ende finden

Der Augenblick, da er begann, seiner eigenen Rede zuzuhören, war exakt der Punkt, an dem er mit ihr hätte aufhören sollen. Nicht weil seine Gedanken fortan schlechter oder seine Sätze ungeschliffener gewesen wären. Aber da er sich nicht mehr in seinem Publikum verlor, verlor er sein Publikum.

Zwiegespräch mit dem Schönen

Der Architekt empfiehlt dem Bauherrn, in das alte Haus zuvor „hineinzuhören“, um zu erfahren, wie es sich behutsam modifizieren und modernisieren lässt. Es ist ein Rat, der mit jener überkommenen Genie-Legende spielt, nach der die großen Skulpturen von den Bildhauern schon im rohen Marmorquader gesehen wurden, so dass es nur darum zu tun war, sie aus dem Stein mit Hammer und Meißel zu befreien. Als ob sich das Geheimnis des Schöpferischen so einfach auflöste. Was am Ende vielleicht anmutet, als habe hier einer mit großer Zurückhaltung in das Gebäude eingegriffen, die Materialien stimmig ausgesucht, die Temperatur des Raums ermessen, Spannungen so erzeugt, dass sie schließlich eine schöne Gestalt ergeben – all das ist das glückliche Ergebnis eines … ja was? In der Tat: eines Hinhörens. Aber oft eines Hörens auf sich. Und erst dann eines Hinsehens auf den Gegenstand. Und nicht zuletzt eines Eingriffs in beides, vielleicht sogar eines brutalen. Qualität, und um die soll es gehen, erschließt sich zwischen dem, was das Objekt fordert, und dem, was das Subjekt will. Sie ist das Resultat einer wechselseitigen Korrektur, eine Dimension eigenen Rechts: niemals nur Konstruktion, nie bloß Konservation.

Friede auf Erden

Nichts ist friedfertiger als Gleichgültigkeit. Jede Konzentration auf eines enthält alle Voraussetzungen für den Konflikt mit dem anderen.

Weitgehend weise

Warum der Aphorismus leicht mit Weisheit verwechselt wird?
Seine kurze Form verschleiert, dass der Satz erklärungsbedürftig ist.
Seine Knappheit fordert auf, sich noch etwas hinzuzudenken.
Seine Bestimmtheit unterstellt, dass für den Augenblick nicht mehr zu sagen sei.
Sein Wortspiel gibt sich den Anschein, als sei hier ein Gedanke wie von selbst entstanden.
Seine Unbedingtheit strebt nach der Überlegenheit gegenüber dem Kontext.
Vielleicht ist Weisheit nichts als eine rhetorische Figur.

Feste feiern

Nach den ausgiebig erkundeten Feiertagsformen verwandtschaftlicher Vergesellschaftung kehrt mit dem Bedürfnis, allein zu sein, auch der Wunsch zurück, wieder zwischen Erschöpfung und Erfüllung unterscheiden zu können – gerade weil beide, die Erschöpfung wie die Erfüllung, so paradox es anmutet, finale Spielarten ein und desselben Zustands sind und kaum getrennt werden können.

Flüchtige Gedanken

Das anthropologische Geheimnis der Weihnachtstheologie: alles andere als das feierlich Getragene der Festfolklore; es geht um nichts als nackte Erträglichkeit. Weniger eine angemessene Haltung – Frömmigkeit oder Freude – ist gefordert. Erzählt wird vielmehr eine Geschichte vom Aushalten. Die Krippe im Stall symbolisiert nichts Niedliches, sondern die Weigerung einer Welt, der Vorstellung Raum zu gewähren, es könnte Größeres geben als sie selbst. Allenthalben werden Fluchtgeschichten erzählt, aber nicht als soziales Drama oder moralische Mahnung (wie es in den Kirchen jetzt wieder zu hören ist), sondern als Bericht über die prinzipielle Heimatlosigkeit Gottes. Diese Selbstaufgabe des Höchsten als Hingabe zu entdecken, ist die Aufgabe des Menschen.

Mehr Licht

Licht ins Licht zu bringen, war lange, bevor es ein physikalisches wurde, ein metaphorisches Unterfangen. Als Inbegriff der Wirklichkeit ist das Bild vom Licht zugleich das, was sie verlässlich ermöglicht. Wo nichts scheint, ist auch nichts zu sehen; und wo nichts zu sehen ist, muss man fürchten, dass auch nichts ist. Nur durch das Licht hat der Mensch Neben- und Mitmenschen, eine Umwelt, eine Welt; aber das Licht selber hat er nicht. Es lässt sich nicht sehen; aber es lässt sehen. Indem Licht die Finsternis vertreibt, setzt es all jene Bedingungen frei, die es Menschen erlauben, sich in der Welt zu orientieren. Das Licht schenkt Gewissheit: Klarheit über den eigenen Standpunkt, Deutlichkeit in dem, was ihn bestätigt oder gefährdet, Genauigkeit in den möglichen Wegen. Die Hauptaufgabe des Lichts ist, im weiten Sinn, Aufklärung. Nichts für sich selbst zu sein und so allem anderen zu dienen, diese Eigenschaft prädestiniert das Licht, stellvertretend für die beiden großen Begriffe des Lebens gebraucht zu werden: für Wahrheit und Gott. Es veranschaulicht, was Zurückhaltung, Demut und Diskretion zu bewirken vermögen. Nicht zuletzt das wird erzählt über jenen Menschen, dessen Geburt als Gottessohn zu Weihnachten gefeiert wird.

Mehr als heiße Luft und frommer Wunsch: Für jedes Fest die passende Botschaft

Mehr als heiße Luft und frommer Wunsch: die weihnachtliche Freude

Finanzmathematik

„Wenn Ihre Aktien fünfzig Prozent des Werts verloren haben, müssen sie um hundert Prozent wieder zulegen, um genau jenen Betrag zu erreichen, den sie mal hatten. Verstehen Sie?“ Der Kunde ist sichtlich nicht beeindruckt von den Rechenspielen des Vermögensberaters, der seine Defensivstrategie fürs Depot erklärt, und antwortet nur: „Alles andere wäre überraschend. Sie werden sich ja auch doppelt so viel Mühe geben müssen, mich als Kunden wiederzugewinnen, als es brauchte, mich zu vergraulen.“

Populismus

Politischer Populismus ist jene Form des Denkens und Sprechens, die vorgibt, dem Volk „aufs Maul“ geschaut zu haben, wenn sie ihm in den Mund legt, was sie den eigenen Parteigängern ständig in den Rachen wirft: dass die schlichten Lösungen die Probleme schlichten. Er zieht aus der Vorstellung Kraft, dass eine Lüge, wenn sie mehrheitsfähig wird, schon zur Wahrheit taugt.

Sei nicht so naiv

Die Arglosigkeit verhält sich zur Ahnungslosigkeit wie das Kindliche zum Kindischen.

Nur nichts verraten

Zwei Einstellungen zum Älterwerden: Man kann die lebenseinschneidende Zäsur eines runden Geburtstags wie ein objektives Ereignis zur Kenntnis nehmen, das kommt und wieder vergeht. Oder man findet eine Einstellung dazu und akzeptiert ihn als Datum der eigenen Geschichte. Ob es einen Unterschied macht, wenn man ein symbolisches Alter erreicht und es öffentlich ignoriert, oder ein gelassenes Verhältnis dazu entwickelt, dass es so ist? So mancher runzelt die Stirn zu tiefen Falten aus Sorge, die Lebensspuren könnten im Gesicht allzu deutlich erkennbar sein.

Stilkritik

So manche Gedankenwendung folgt dem falschen Ideal, so verschlungen zu sein wie die Hirnwindung, aus der sie offenkundig stammt.

Was bei Machiavelli nicht steht

Rhetorik des Machterhalts: Sprich so, dass jeder genau zu wissen meint, was du willst, wenn er es hört; und nicht mehr wirklich weiß, was er gehört haben soll, wenn er sich der Aufgabe widmen will. Solange der andere an sich selbst zweifelt, wird er nicht an dir zweifeln.

Das Netz hat Löcher

Eine wichtige Regel der digitalen Welt lautet: Je loser die Bindung, desto leichter die Vernetzung. Nur was keine allzu enge Beziehung besitzt, lässt sich über weltumgreifende Transaktionen in ein Verhältnis setzen. Der Zugang zu allem setzt voraus, dass der Besitz nichts gilt. Nicht mehr der substanzielle Charakter einer Sache ist entscheidend, aber ihr medialer. Das Geld mag als Inbegriff dieser Form beispielhaft gelten, die für sich nichts ist, indes für alles eingetauscht werden kann. Dieses Digitalgesetz ist gebildet nach dem Muster des logischen Grundsatzes von der umgekehrten Proportionalität zwischen Inhalt und Umfang eines Begriffs: Je größer die Reichweite einer Kategorie, desto geringer ihre Bestimmtheit. So sagt das „Buch“ über die Eigenart des Lesestoffs weniger aus als der „Taschenbuchkriminalroman“, ist allerdings auf sehr viel mehr Bände anwendbar. Und beide Muster bilden strukturell wiederum eine Voraussetzung ab, die den Menschen in seiner Entwicklungsgeschichte maßgeblich beeinflusst hat: Nur weil er sich irgendwann herausziehen konnte aus dem strengen Ausleseverfahren der Natur durch „Körperausschaltung“ (Paul Alsberg), weil er nicht unmittelbar auf das Reizsystem seiner Umwelt organisch reagieren musste, bedeutete ihm jede Flucht aus einem Konflikt auch einen Erfahrungsgewinn mit Ansprüchen aus anderen Umgebungen. Erst die Unabhängigkeit von spezifischen biologischen Systemen machte ihn fähig, sich allenthalben zu seinem Vorteil anzupassen. Die kulturelle Überlegenheit entsteht aus einer natürlichen Verlegenheit. Je schwächer das Talent zur unmittelbaren Antwort, desto größer die Freiheit.

Feuerwerksmusik

„Bleib mir bloß weg“, wehrt der Freund ab. „Silvester ist das verlogenste Fest im Kalender. Erst feiern die Leute ausgelassen, weil ein Jahr zu Ende geht; und wenn es dann schließlich rum ist, haben sie einen Kater und seufzen, dass es wieder so schnell vergangen ist. Mir verbirgt sich hinter dieser aufgekünstelten Heiterkeit, all den Feuerwerkssinfonien und Luftschlangenparaden zu viel vanitas. Umgekehrt wäre es angemessener: den Katzenjammer zuerst, danach die Freude, dass es weitergeht.“

#hobbylos

Einer aus der älteren Generation der Erzeugerfraktion wird unfreiwillig Zeuge, wie drei zahnspangenbewehrte, durchgestylte Mädchen sich über einen Klassenkameraden lustig machen und dessen Qualitäten abwägen: „Vergiss ihn“, sagt die eine plötzlich glasklar, „der ist total hobbylos“. Ob bei den Chicksen von heute auch die alte Frage aus den Fünfzigern wieder verstanden würde: Darf ich dir meine Briefmarkensammlung zeigen? Hobbylos war der nicht, der so einlud, weder im alten Sinn eines Menschen ohne Steckenpferd noch in der seit ein paar Jahren gebräuchlichen, jugendlichen Steigerung von „uncool“.

Gut genug, besser nicht

Jetzt beginnt wieder die Zeit, in der die schniefenden Zeitgenossen einander in gepflegter Etikette, aber grammatikalisch ungelenk „Gute Besserung!“ wünschen. Als ob die Steigerung desselben der Genesung besonders zuträglich wäre. „Besserung!“ reichte schon, wenn alles andere gerade nicht „gut“ genannt zu werden verdient.

Vorläufig

Nicht nur die Dramen haben ihren Wendepunkt. Auch deren Vorspiele. Der dritte Advent feiert den Täufer Johannes in seiner Rolle als Vorläufer und Vorbote des Weltenerlösers, dessen  Geburt ein paar Tage später in der Christenheit festlich begangen wird. In ihm spitzt sich zu, was Weihnachten meinen könnte. Offenbar war es nötig, einen Interpreten voranzuschicken, um Fehldeutungen von vornherein auszuschließen. Aber nicht nur das. Johannes trat vor allem auf als abstrakter Mahner, den eigenen Lebenslauf zu ändern – allgemein noch, weil die Richtung, in die es inskünftig gehen sollte, zu seiner Zeit nicht präzise erkennbar war. Vor der Lebensänderung steht die Sinnesänderung, so seine Worte. Der neuen Handlung muss eine neue Haltung vorausgehen. Unheimlich hingegen sind gut gemeinte Taten, ohne dass zuvor die Einstellung gewechselt wurde – eine Gesinnung, die sich fortan an zwei Prinzipien zu orientieren hat, welche sich wechselseitig begrenzen: an Gerechtigkeit und Barmherzigkeit gleichermaßen. So ist der dritte Advent der große Trainingstag der Menschheit, an dem sie erprobt, ob sie fähig sein wird, sich auf einen Weg zu machen, der mit Fug menschlich heißen könnte.

Freundeskreis

Zu den verstörenden Erfahrungen einer gelegentlichen Einladung beim Freund gehört, dass die anderen Gäste zu ihm in eben demselben Verhältnis stehen: auch Alltagsvertraute und Gefährten sind, obwohl sie doch untereinander so fremd erscheinen. Man kennt sich nicht näher und will sich auch nicht kennenlernen über den Abend hinaus. Nur über den Gastgeber teilt man die formale Gemeinsamkeit, dessen Intimus zu sein. Da lebt einer seine Vielfalt und Zwiespältigkeit sichtbar aus in der Zahl der unterschiedlichen Lebenskumpel, die es gewiss nicht verdienten, als Freundeskreis wahrgenommen oder angesprochen zu werden. Und würden sie es, fragt man sich unwillkürlich: Wollte auch nur einer von ihnen dazugehören?

Geschwätz von gestern

Nach den ausufernden Erfahrungen mit dem ersten Gesetz der Kommunikation – „Man kann nicht nicht kommunizieren“* – entdecken wir nun die zweite Regel der Kommunikation: Wenn alles bedeutsam ist, ist nichts bedeutsam.

* Paul Watzlawick, Janet H. Beavin, Don D. Jackson, Menschliche Kommunikation, 53

Alles muss versteckt sein

So mancher erzählt mannigfach Geschichten, – nicht um sich oder etwas in ihnen zu zeigen, sondern – um sich hinter ihnen zu verstecken. Dabei wiederholt er nur, was das Talent, einen Mythos zu erfinden, eine Sage zu spinnen, den eigenen Alltag mit ein paar Anekdoten auszuschmücken, vermutlich einst hervorgebracht hat: die Langeweile an der wirklichen Welt. Sie ist es, die unsere Fähigkeit, ins Blaue hinein zu fabulieren, bei manchen zur Meisterschaft einer aufs Schönste gefertigten narrativen Kunst gebracht hat, die beim Hörer ins Schwarze trifft. Wir phantasieren, weil dem Geist die Realität nicht genügt. Wir lügen, weil uns die Wahrheit ermüdet. Wir erfinden aus Ärgernis an dem, was wir erfunden haben.

Eigeninitiative

Es geht weiter: Mit diesem Versprechen verführt das Leben sich selbst. So schaffen wir es, die großen Hürden, die es aufstellt, immer wieder zu überspringen, und glauben, weil eine Sache sich erschöpft, dass eine andere beginnen wird. Die große Enttäuschung setzt ein, wenn wir merken, dass dieses „Es“, das da die Geschichten fortführt, nicht lange Bestand hat und in Wahrheit eine versteckte Aufforderung ist, „Ich“ zu sagen. Nie ist ein Anfang schon gesetzt, weil wir eine Lebensphase zu Ende gebracht haben; kaum eine Erfahrung als Lebensabschnitt beschlossen, nur weil wir längst zu Neuem aufgebrochen sind. Was Entscheidung heißt, meint genau dies: dass wir an die Stelle des Es das Ich platzieren.

Ich nicht

Freiheit: ein anderer Name für das Ich.
Verantwortung: ein anderer Begriff für Freiheit.
System: das Ende der Freiheit, das Versteck der Verantwortung – Ich nicht, sondern Es.