Monat: Dezember 2015

Wo ist die Brille?

„Warum immer so pessimistisch?“ fragt er entnervt.
„Ich bin realistisch“, antwortet sie gelassen.
„Aber du siehst in allem nur Negatives“, entgegnet er.
„Ich bin halt weitsichtig“, erklärt sie.
„Das ist viel zu kurzsichtig gedacht“, widerspricht er.
„Wer ist denn jetzt negativ?“ spottet sie.

Sankt Nikolaus

Zeichnung Robert Gernhardt

Zeichnung Robert Gernhardt

„Bilden Sie mal einen Satz mit …
… Nikolaus:

Nutze die Gelegenheit!
Hilf Nicole aus dem Partykleid.“*

* Aus Robert Gernhardts Dichterwettstreit 

So fern, so nah

Die formale Struktur des Weltschmerzes: Das Abstrakte wird konkret.
Und die des Glücks: Das Konkrete ist abstrakt.
Was haben beide gemeinsam? Etwas Unwirkliches, das jedoch unwirksam bleibt.

Leitender Angestellter

„Und welche Art von Unternehmen leiten Sie?“ wird der Philosoph gefragt, als er sich in einen Managementkongress verirrt hat. Seine Antwort lässt nicht auf sich warten: „Ich führe einen Zeitvertrieb.“

Gehaltsschere

Wo wird am meisten verdient? Die lukrativen Geschäfte sind kaum von produktiver Natur, sondern – in einem weiten Sinn – von logistischer Art: Investment Banking, Private Equity, Börsenhandel, Maklerdienste, Beratung in aller Form, vielleicht Marketing und Werbung. Weniger die Sache bringt den Ertrag als deren Abwicklung.

Verreist

„Habe ich dich gestört?“ fragt sie, als er kaum vernehmbar seinen Namen ins Telefon nuschelt. „Nein, ich habe nur nachgedacht und bin durch den Summton des Apparats herausgerissen worden.“ „Oh, das tut mir leid. Ich glaube, du brauchst mal eine Luftveränderung, um aus deiner Dauerbelastung herauszufinden.“ Er schwieg. „Hallo? Bist du noch dran?“ unterbricht sie die Stille. „Ja, ja“, sagt er geistesabwesend. „Andere Gedanken würden schon ausreichen. Du weißt, dass ich lieber im Kopf verreise, als mich mit all den Plagen einer durchgeplanten Ferienfahrt herumzuschlagen. Da erreicht man immer seinen Anschluss. Und das Lieblingsplätzchen ist stets frei.“ „Ist ja auch billiger“, antwortet sie resigniert, weil sie gehofft hat, dass sie sich wieder einmal mit ihm auf den Weg machen würde. „Am Ende könnte der Preis sehr hoch sein, den ich dafür bezahlen muss“, reagiert er schon aus weiter Ferne. Sie hört schließlich nur noch ein Knacken und ahnt, dass er mehr beendet hat als ein Gespräch.

Über Kreuz

Über das Wortspielerische hinaus lässt sich die Vorahnung als eine Nachahmung der Zukunft verstehen zu Zeiten, da diese noch nicht eingetreten ist. Geht das auch umgekehrt? Vielleicht ist das Déjà-vu eine „Nachahnung“, die als „Vorahmung“ vorgestellt wird.