Dankbarkeit ist die versöhnliche Antwort auf ein Leben, das nie nur Erfahrung und Gestaltung ist, sondern ebensosehr auch als Widerfahrnis und Gewalt wahrgenommen wird. Anders als der Dank, der sowohl für etwas als auch bei jemandem spezifisch ausgesprochen wird, umfasst die Dankbarkeit stets Ganzes. Der leichte Hang zur Abstraktion, der ihr zu eigen ist, wird allerdings gegengearbeitet in der Konkretion eines, auf den die Dankbarkeit sich richtet, obwohl sie ihm nicht einmal je gedankt haben müsste.
Monat: Dezember 2023
Abschlussbilanz
Übung zum Jahresabschluss: schnell noch die Irrtümer als Lernerfolg umdeklarieren.
Im Schnee
Frisch gefallener Schnee, noch keine Spur zu sehen in der Landschaft. Es liegt eine Versuchung in der natürlichen Unberührtheit: die, der erste zu sein, dessen Tritte durchs Tiefe einen Pfad markieren. Und, wie in jeder Versuchung, die Scheu, Intaktes zu verletzen. Noch gibt es keinen Weg. Der entsteht erst, wenn wiederholt die immergleichen Schritte gegangen werden, die das Risiko eines Fehltritts minimieren. Wege sind Resultate der Anstrengung, risikoarm durchs Leben zu kommen. Sie finden sich dort, wo Menschen das Wagnis auf sich genommen haben, sich in zunächst unsicherem Terrain zu bewegen, vielfach und auf dieselbe Weise. Es ist die Bewegung der Beständigen. Wer nur das Neue sucht, schafft keine Wege, auch wenn er vorankommt.
Müde Mühen
Vorabend von Katastrophen: wenn müde Geister eine schläfrige Gesellschaft wachrütteln wollen.
Eilige Tage
Zwischen den Jahren: die Zeit, in der man es überhaupt nicht eilig hat, die restlichen Tage aufzubrauchen. Absichtslos zu leben, man könnte es verwechseln mit einer Rückkehr in die Kindheit. Das Leben verliert für einen Moment seine Strenge, die es auferlegt bekommt durch Termine, Hatz, Verpflichtungen und die rastlosen Ansprüche der anderen. Immer ist es die kurze Weile, in der ein Jahr auf sein Ziel beschleunigt zustrebt, in der die eigenen Ziele gelassen beiseite geschoben sind, um dem Dasein selbst Raum zu geben. Die Losung lautet: Nichts weiter. Aber auch das geht natürlich weiter, geht vorbei.
Ich brauche dich
Seltsames Wort: brauchen. Noch dazu das Partizip Perfekt: gebraucht. Nutzen und Nützlichkeit schränken seinen Bedeutungsspielraum ein bis hin zur schäbigen Variante des Abgenutzten. „Ein gebrauchter Tag“, so die Sprachformel der Sportler nach einem glanzlosen Misserfolg; sie entdeckt in diesem nichts als Wertloses. Es, was auch immer dieses „Es“ in der Funktion eines Handlungssubjekts sein soll, hat nichts gebracht. – Nur in der Vorstellung vom Himmel hält sich überall die Annahme, es könne einen Ort geben, an dem einen Platz zu haben nicht dasselbe meint wie, gebraucht zu sein.
A Crack in Everything
Das ist mehr als ein architektonisches Gesetz, auch eine theologische Regel: Öffnung und Helligkeit bedingen einander. Aber dem Licht genügt der kleinste Spalt.*
* Leonard Cohen, Anthem: „Ring the bells that still can ring / Forget your perfect offering / There is a crack, a crack in everything / That’s how the light gets in.“
Es begab sich aber …
Wenn es eine Sprache gibt, die dem Gott entspricht, der sich eingelassen hat auf die Endlichkeit des Menschen, dann ist es die erzählende.
Lass uns offen sprechen
Der Unterschied zwischen Aufdeckung und Offenbarung ist der zwischen Indiskretion und Dezenz.
Psychospiegelchen
Kein Wunder, dass im Zeitalter des Narzissmus die psychologische Methode des Spiegelns beliebt ist.
Phrasenreporter
Am Bahnsteig schnell die Schnürsenkel gerichtet, bevor der Zug einfährt. Plötzlich nötigt ein Radioreporter mit seinem Aufnahmegerät zur Auskunft über die Bilanz des vergehenden Jahrs. „Was war für Sie der glücklichste Moment?“ Der so Befragte ist irritiert: „Wieso fragen Sie das? Gibt es nichts anderes an dieser Zeit zu finden? Unfrieden, Morden, Not, Unsicherheit, Krisen?“ „Nein, nein“, sagt der Mann mit Mikrophon, „ich meine: so privat …“ „Ach so, Sie meinen: privat. Und meinen, dass ich das der Öffentlichkeit kundtue?“ „Ja. Also: Wann waren Sie am glücklichsten?“ Der Interviewte überlegt eine Weile. „Und so etwas würden Sie mir erzählen? Oder gar irgendeinem Publikum?“ Der Mann vom Rundfunk stutzt. Er packt seine Sachen. Sichtbar nachdenklich verlässt er die Platform am Gleis. Der Zug ist endlich angekommen. Was für ein Glück.
Mein Bestes
„Ich will doch nur dein Bestes“, sagte sie.
„Das gebe ich aber nicht her“, antwortete er.
Zum Vergessen
In den Wochen postalischer Festtagsgrüße, die ins Haus flattern, wird die Zahl derer erkennbar größer, die nichts anderes im Sinn haben, als den Absender in beste Erinnerung zu bringen. Es geht den handgeschriebenen oder wenigstens persönlich unterschriebenen Schmuckkarten weniger um den Anlass eines wiederkehrenden Brauchs, schon gar nicht um den Empfänger, der bewünscht und bedacht werden soll mit feierlichen Formeln. Sondern allein um den kaum versteckten Fingerzeig: Ich bin noch da. Und: Denk an mich bei Vergabe des nächsten Auftrags. Wirtschaftsflauten erzeugen ihre eigenen Willigkeitsfloskeln.
Freundliche Niedertracht
Wer der Niedertracht entgehen will, darf sich nicht an die Freundlichkeit halten, sich aber immer verlassen auf Warmherzigkeit. Es gibt eine Gemeinheit, die kühl den Anschein von Wertschätzung erweckt.
Die Diktatur in der Demokratie
Auch die Demokratie hat ihre Diktatur: Sie heißt Bürokratie.
Armutszeugnis
Ein Land, in dem der Reichtum als politisch unanständig erscheint, macht sich ohne Not arm.
Wir sagen, Ich meinen
Das Wir ist das Ich der Feiglinge.
Die Summe des Erfolgs
Nichts ist an der Börse so erfolgreich wie die Kombination aus Optimismus und Opportunismus.
Das Verzweifeln an der Verwaltung
Nie ist die Verzweiflung größer als nach dem Gespräch mit einer Behörde, in der die Verbindung von Dummheit und Herrschaft die eigene Beherrschung dummerweise bis zur äußersten Belastungsgrenze testet. Es ruft das Gefühl derselben Hilflosigkeit und Ohnmacht hervor, die in den Wutbürgern ihre hässlichste Fratze zeigt. Nur ein gehöriges Maß an Klugheit und Charakter verhindert, die Dämlichkeit nicht unmittelbar durch Arroganz zu spiegeln, Borniertheit nicht zu erwidern mit Ausfälligkeit.
Komplexität, ein Klacks
Alle Zweifel am Nutzen und jede Furcht vor der Überlegenheit künstlicher Intelligenz wird in dem Moment verschwinden, in dem sie für einen flüssigen Verkehr sorgt und Reisen wie Transport mit einer nie gekannten Zuverlässigkeit steuert. Wetter, Verschleiß der Maschinen, Staus oder die Streiks derer, die ahnen, dass sie den traurigen Job einer letzten Berufsgeneration übernommen haben, sie alle werden keinen Grund mehr liefern für Verzögerungen und Ausfälle. Komplexität wird zum Klacks. Und den Menschen werden plötzlich Möglichkeiten des Miteinanders vorgeführt, an denen sie selber nur nicht mehr teilhaben können.
Die Wünsche der Erwachsenen
Der Wunsch, der vor dem Fest am häufigsten genannt wird von denen, die wissen, was er bedeutet: mehr Zeit. Gelegentlich wird vorsichtig hinzugefügt: mit dir. Beim Blick auf die Bestell- und Einkaufsliste fällt auf: So manches Geschenk macht sich nicht einmal die Mühe, diskret zu verschleiern, dass es nichts anderes intendiert, als davon abzulenken, wie sehr dieses Elementarbedürfnis auch in diesem Jahr meist unerfüllt bleibt.
Wir Selbst(er)finder
Der alten Losung „Erkenne dich selbst!“, die den Apollontempel als Inschrift geziert haben soll, tritt die neue Parole entgegen, stets nach einem Scheitern als wohlmeinender Rat bereit: „Erfinde dich neu!“ Beiden ist gemein, dass es geradezu ums Wegsehen geht, dass das Selbst nur erkannt und wiedergefunden wird, indem man anderes betreibt, als das Selbst erkennen oder gar abermals erfinden zu wollen.
Entscheidungsgründe
Man kann an der Mühe, eine Entscheidung gut begründet zu rechtfertigen, das Maß des Respekts ablesen gegenüber dem, der von ihr betroffen ist.
Sensibel
Sensibilität ist das Talent, einen Gedanken zu übersetzen in das Gefühl, das durch ihn einst getilgt worden ist.