Monat: November 2023

Kommunikationslast

Nichts verträgt Kommunikation weniger als das Anzeichen, dass sie dem, der sie nutzt, lästig ist.

Abfahrt unbestimmt, Ankunft ungewiss

Das Wetter hat die Bahn überrascht. Ein paar Schneeflocken künden vom nahen Winter. Oberleitungsstörung im Großraum der Großstadt. Nichts geht mehr, heißt es über den Lautsprecher präzise. Es ist die einzige belastbare Information. Weniger belastbar ist das Personal des Unternehmens. Es geht, weil sonst nichts mehr geht. Als dann endlich die nachfolgende Abendschicht den Zug übernommen hat, rollt er langsam in die Umleitungsschlaufe, die der Fahrdienstleiter vorgegeben hat. Der Ton im Abteil ist gereizt. Es sind aber nicht die Passagiere, die schimpfen. Es sind der neue Zugbegleiter und seine Kollegin, selber Leidtragende einer Verspätung: „Das ist der Deutschlandtakt“, sagt er, „das Deutschlandtempo, die Deutschlandtrance.“ Der geplagte Passagier, der seinem Unmut ursprünglich Luft schaffen wollte, schweigt lieber. Wenn der Mitarbeiter mit der Firma unzufriedener ist als der Kunde, verbessert sich vielleicht die Qualität endlich.

Gut geschnüffelt

Der Philosoph Dieter Henrich, ein Meister seines Fachs und des erzählenden Gesprächs gleichermaßen, berichtet in seiner Autobiographie, dass die besten Gesprächspartner aus dem Geheimdienst stammten. Sie waren gewohnt, sich in die Perspektive des anderen zu versetzen.*

* Dieter Henrich, Ins Denken ziehen. Eine  philosophische Autobiographie, 116

Natürliches Selbstbewusstsein

Vielleicht ist das die schönste Art, selbstbewusst zu sein: weder genau zu wissen, wer man selber ist, noch ein Bewusstsein davon zu haben, dass das ein Mangel sein könnte.

Komfortzone

Aus einer Sonntagslektüre

„Heute genügt es, dass es einem gut geht, dann ist sein Rechtfertigungsbedarf schon gedeckt.“*

* Martin Walser, Über Rechtfertigung. Eine Versuchung, 41

Charaktervoll

Charakter, das ist keine Eigenschaft einer Person. Es ist vielmehr deren Wirkung, jener Effekt, der dafür sorgt, das in deren Gegenwart andere Menschen plötzlich besser, heller, lebendiger, mutiger, kräftiger und klarer werden.

Kunst des Unmöglichen

Es sind etliche Gespräche gewesen, in denen der Reichskanzler Bismarck – nicht nur politisch gehandelt, sondern – über Politik gesprochen hat. Und sie dabei als Kunst des Möglichen bezeichnete in Abgrenzung zur Wissenschaft. Das Wort, das ihm zugeschrieben wird als ein Zitat, das aber so nicht nachweisbar ist, betont das Ungestrenge, ja Freie schöpferischer Gestaltungskräfte und reduziert sie zugleich modal aufs Pragmatische. Politiker ist, wer sich weniger von Vernunftideen lenken lässt und am Ende schlau genug ist, sie zu beschränken auf das, was geht. Wenn aber kaum noch etwas gelingt und das Maß der Aufgaben übergroß ist? Die Schmallippigkeit des Kanzlers heute mag widerwillig Auskunft geben darüber, dass längst eine Politik verlangt ist, die erkennt, dass sie, weil sie sich mit Anstrengungen konfrontiert sieht, die unmöglich genannt zu werden verdienen, gestalterischer Genialität viel verwandter ist als dem Zweckmäßigen. Nur wo Unvergleichliches zu leisten ist, bedarf es der Kunst. Tiefer sollte man nicht stapeln in einem Staat, der mal wieder zielgewiss auf eine entscheidende Schwelle zusteuert.

Erzwungene Freiheit

Das Alter setzt ein in dem Augenblick, in dem man sich um Ablenkungsfreiheit nicht mehr mühen muss. Nicht selten ist sie erzwungen.

Weiterfragen

In der Liebe verbindet sich das Ideal des Denkens, weiter zu fragen, mit dem Ideal der Diskretion, nicht weiterzufragen. Da will sich Entscheidendes zeigen und offenbaren, nicht aber erschlossen sein. Das Herz wird umso forscher, je weniger es sich erforscht fühlt.

Zwei ungleiche Geschwister

Genialität und Professionalität vertragen sich nicht. Sie scheinen nur gleich zu sein, weil beiden eine Aufgabe meist leicht von der Hand geht.

Lust auf Privates

Man sollte das Interesse an der Person nicht verwechseln mit der Lust auf Privates. Es gibt eine Indiskretion in der Antwort, die auf die behutsam vorgetragene Erkundigung nach dem Befinden gleich mit einem tief schürfenden Seelenbericht reagiert, der Einblick gibt in intimste Details. Danach ist jede Art angedeuteter Anteilnahme dahin.

Ich lass dich nicht allein

Jemanden lieben bedeutet zu versprechen: Ich lass dich nicht allein. Groß ist die Liebe, wenn sie diese Zusage bindet an die Gewissheit: Ich kann dich lassen.

Schmiergeld

Die Neigung, Unanständiges zu tun, wächst in dem Maße, wie man dafür anständig bezahlt wird.

Kleine Rhetorik

Es sind zwei Schritte vom Sprechen zur Sprachkunst, ein großer und ein kleiner. Der große hat mit einer Doppelung zu tun: Man muss hören, während des Redens, was die anderen hören können, wollen, sollen. Danach kommt es nur noch darauf an, das rechte Wort zu finden. Das ist die geringere Aufgabe.

Zweckentfremdung

Die einflussreichste und wichtigste der Formeln des kategorischen Imperativs lautet: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“* Sie hat maßgeblich das Menschenbild bestimmt, das der Verfassung zugrundeliegt und sich in der Vorstellung einer unantastbaren Würde niederschlägt. Mit ihr kennzeichnet Kant das Wesen der Instrumentalisierung, der vor der Person, nicht nur des anderen, im Letzten Halt zu gebieten ist. Menschen, die das nicht verstehen, zerstören die Grundbedingungen von Gesellschaft. Denn es ist der Gedanke der Nützlichkeit und Brauchbarkeit, der auf ein Gegenüber angewandt, über kurz oder lang vereinsamen lässt.

* Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 66

Das Glück im Gespräch

Der Meister in der Kommunikation erweist sich in jenem Augenblick, in dem ihm gelingt, vom Unausgesprochenen so lange mit seinen Worten abzulenken, dass es nicht mehr gesagt werden muss, um gleichwohl verstanden zu sein.

Ich erinnere mich nicht

Man kann sich nur erinnern an das, was man vergessen hat. Die Gedächtnislücke indes wird größer in dem Maße, wie einem etwas entfällt. Das ist nicht dasselbe.

Versprochen, gebrochen

In der Phantasie wie in den Versprechungen entwickelt der Mensch ein starkes Gefühl für seine Grenzenlosigkeit. Schwierig wird es, wenn die Illusion sich mit einer Zusage verwechselt.

Schluss mit der Gewalt

Es ist eine gewaltige Illusion, der Gewalt per Befehl beikommen zu können. Sie hört nicht auf, indem man ihr Ende anordnet oder sie vernichtet. Da müsste man schon die ganze Welt zerstören. Das hat mit dem Schreckensungleichgewicht zu tun, das in jedem ihrer Momente sich auftut; ihre Unversöhnlichkeit erwächst aus dem unmittelbaren Erleben von Grausamkeit und Aussichtlosigkeit. Je größer die Gewalt, desto größer nicht nur das Unrecht, sondern auch die Ungerechtigkeit. Der einzige Ausweg nimmt das Maß dieser ihrer Ungeheuerlichkeit auf, indem er ihr Unvorstellbares entgegensetzt: Vergebung und Trost – Ohnmacht statt Herrschaft, Hilflosigkeit statt Strategien, Risiko statt Sicherheit. Es ist das größte aller Wagnisse. Undenkbar.

Kluger Rat

Niemals sollte ein Ratschlag so gegeben sein, dass er dem anderen den Irrtum erspart. Das kann ohnehin dauerhaft nicht gelingen, da das vermiedene Missverständnis immer auch ins nächste führt. Fehleinschätzungen zu hindern heißt am Ende, Erfahrungen zu verweigern. Klug zu beraten aber meint, diese zu interpretieren. Um es in eine große Frage zu wenden: Kann man aus der Geschichte lernen? Vielleicht weniger, wie man deren viele Versehen umgeht. Die Geschichte lehrt eher, dass wir geschickt darin geworden sind, ihre Katastrophen zu wiederholen. Was das bedeutet?

Das absolut Böse

Aus der Freitagslektüre eines Klassikers über „Elemente des Antisemitismus“:

„Die Juden sind heute die Gruppe, die praktisch wie theoretisch den Vernichtungswillen auf sich zieht, den die falsche gesellschaftliche Ordnung aus sich heraus produziert. Sie werden vom absolut Bösen als das absolut Böse gebrandmarkt. So sind sie in der Tat das auserwählte Volk.“*

* Max Horkheimer / Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, 177

Dröhnendes Drohen

In der Grammatik täuscht der Plural gelegentlich über seine Leistung: Es gibt Wörter, bei denen die Steigerung der Anzahl einen Verlust von Eigenschaften darstellt. Ängste sind immer weniger bedrohlich als Angst. Nicht dazuzugehören, ausgestoßen zu sein, ist vielleicht nicht die größte unter den Ängsten, aber gewiss die, vor der wir am meisten Angst haben. Nur weil wir genau wissen, was dies bedeutet: Angst zu haben, sind wir auch Meister darin, Angst zu machen.

Das gefährliche Schöne

Alles Schöne gefährdet das Realitätsprinzip. Blendend macht es blind. Das ist der Sinn des Satzes, etwas sei zu schön, um wahr zu sein.

Endgültig entschieden

Die im Mythos vorgestellte letzte Trennung zwischen Himmel und Hölle spiegelt den Wunsch seines Erfinders wieder, es möge eine Welt geben, in der die Unbußfertigen die friedlich Gesinnten einmal nicht stören in deren Anstrengung, Gemeinschaft gelingen zu lassen. Vielleicht gut, dass sie es bisher nie unversucht gelassen haben und immer wieder auf Attacke aus waren. Es wäre doch anders die Enttäuschung umso größer über die Erfahrung, wie viel Konfliktpotential in einer Gesellschaft der Wohlmeinenden steckt. Und über den Verlust der letzten Hoffnung, es könnte je anders sein.