Monat: Oktober 2023

Hin- und Rückweg

Der gleiche Weg kann kürzer oder länger sein, je nach der Lust auf das Ziel, abhängig vom Seelengepäck und dessen Erleichterung, von Vorfreude oder Nachdenklichkeit begleitet. Den Triumph, den Luther empfand, als er seine Thesen zum Ablass erstmals in die theologische Auseinandersetzung brachte, ein paar Monate nach deren Veröffentlichung, die der Reformationstag feiert, in Heidelberg beim Ordenskapitel der Augustinermönche, fasste er in ein Erleichterungsbild; er wählte die Metapher des Wegs: „Ich ging aus zu Fuß und kam zurück im Wagen“*, bemerkte er im Anschluss, nicht ohne Befriedigung. Er war von gleich zwei Delegationen mitgenommen worden, die ihn eingeladen hatten mitzureisen. Da war nichts von Spaltung, Trennung, Schisma zu spüren. Sondern nur von der Lust, auch nach Ende der Veranstaltung weiterzudisputieren. Denn das wollen streitbare Thesen allein: dass wir ins Reden finden.

* WA, Briefe 1, 75

Synästhetik

Wahre Gedanken sind auch schön (tun aber nicht unbedingt gut). Gute Ideen sind auch wahr (brauchen aber nicht schön zu sein). Schöne Sätze tun gut (sind aber nicht unbedingt wahr).

Wissensgesellschaft

Das Problem unserer Zeit: wachsendes Wissen, schwindendes Urteilsvermögen; Datenfülle, Informationslücken; zu allem eine Meinung, zu Wahrheit kein Verhältnis.

Wenn die Worte fehlen

Es kommt nicht selten vor, dass wir handeln, weil uns die Worte fehlen. Umgekehrt reden wir oft, solange wir nicht wissen, was wir tun sollen. Erst wenn die Sätze so kraftvoll sind, dass sie dieselbe Wirkung erzielen wie eine Aktion, können wir auf jene Verhaltensweisen verzichten, die sprachlos machen.

Gleichung der Wahrheit

Lesefrucht:
„Wenn du wie die Menge denkst, wird dein Gedanke überflüssig.
Für die Masse ist ihr Gefühl eine ,Wahrheit‘.
Für jeden einzelnen bleibt es eine Frage.
Also ,Wahrheit‘ = Zweifel x Menge.“*

* Paul Valéry, Werke 5, 403

Ergebnisoffenheit

Eine der wichtigsten Eigenschaften des Denkens ist, dass es kein Ergebnis erzielen muss und dennoch sinnvoll sein kann.

Problembewusstsein

Es gibt Probleme, da ist deren Bewusstsein schon die Lösung. Und nicht selten auch das Gegenteil: dass man sie vergisst. Nur unwesentliche Fragen lassen sich befriedigen durch eine Antwort.

Gründliches Schweigen

Das Empfinden, bedroht zu sein, ist der natürliche Reflex auf ein Schweigen, dessen Unentschiedenheit noch nicht aufgehoben ist. Solange nicht klar ist, ob es sich auflöst in ein Wort der Versöhnung, den Willen zur Befriedung oder rohe Gewalt, erzeugt es jene stumme Nervosität, die, auf alles gefasst, vor allem mit dem Schlimmsten rechnet. Da ist nichts neutral, sondern die Bereitschaft zurückzuschlagen stets die erste Option.

Unverzeihlich

Der Rigorismus in der Moral verfremdet das gute Gewissen, das im Recht zu sein sich dünkt, zur nackten Machtgeste. Alles kommt darauf an zu erniedrigen und zu verstoßen, weil selbst die Bitte um Verzeihung immer zu spät kommt, da eine Entschuldigung im zelotischen Programm der Kompromisslosen nicht vorgesehen ist. Nirgendwo sind der Sittenverfall und die Heuchelei größer als in einer Ethik, welche die Vergebung als Bedrohung ihres Selbsterhalts ansieht.

Schwarz auf Weiß

Weil im Schreiben der Gedanke die Stufe seiner Sinnlichkeit erreicht, muss er sich nicht über eine Handlung veranschaulichen.

Die Kraft des Mythos

Weil der Mythos sich nicht abhängig macht von dem, was wirklich ist, setzt er all seine Kraft darein, die Wirklichkeit abhängig zu machen von dem, was er erzählt.

Stellvertretendes Leiden

Nichts vereinzelt den Menschen so sehr wie sein Leid. Dort, wo der Zuspruch und die Gemeinschaft am meisten vonnöten ist, bleibt er letztlich gefangen in seinem Schmerz, trotz Trost und Beistand. Es gibt aber ein Leid, das stellvertretend empfunden wird: die Fremdscham. Sie meint, dass einer für Augenblicke in der Haut eines anderen steckt und dort alle Pein aushalten muss, die dieser nicht zu spüren scheint.

Was willst du?

Wer (zu) vieles will, will nichts. Der Wille ist das Organ der Wahl.

Nichts ungeheurer

Nur Menschen, nichts sonst, können unmenschlich sein. In dieser Schreckensdiagnose, die schon Sophokles dem Chor in seiner Tragödie „Antigone“ in den Mund legt*, steckt auch die Minimalhoffnung auf das, was nur Menschen eben auch können: sich zu ändern.

* „Ungeheuer ist viel, doch nichts ist ungeheurer als der Mensch.“ – Vgl. 2. Akt, VV332ff.

Endlichkeit und Unendlichkeit

Wie unendlich die Liebe ist, merken viele erst, wenn sie die Endlichkeit der Liebe kennengelernt haben.

Am Abgrund

„Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, daß er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“*

* Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Aphorismus Nr. 146

Bedrohlich

Solange noch gedroht wird, ist die Hoffnung auf politische Konfliktbewältungen nicht verloren. – Die Welt steuert auf einen Zustand zu, in dem es nötig sein wird, sich zu verabschieden vom Glauben, dass zu jeder Frage natürlicherweise eine Lösung gesucht werden kann, weil es eher darauf ankommt, Probleme auszuhalten, als die Komplikationen zu vermeiden.

Die Freiheit zu schweigen

Die Freiheit zu schweigen, die in Wahrheit jenen Freiraum umschreibt, in dem das Reden überhaupt erst entsteht, ist suspendiert in zwei Augenblicken: angesichts von abgrundtiefem Hass und in der Konfrontation mit dem Tod. Wenn die Stummheit eine fast natürliche Reaktion darstellt, ein Ereignis plötzlich fassungslos und sprachlos machen will, erwächst aus der Unentschiedenheit, ja Verlegenheit, etwas zu sagen, die Pflicht, das Wort zu ergreifen als menschlichste Kraft des Widerstands, der Versöhnung und des Trosts. Und sei es, dass es nicht mehr spricht als jene Grundformel, die sich höchst unterschiedlicher Präsenzzeichen bedient, das „Ich bin da“, und die im Jüdischen als Name Gottes gilt.

Nicht nichts

Die Befreiung des Nein vom Negativen ist die Entdeckung, dass es kein Ja geben kann ohne Ausgrenzung und Selbstbeschränkung, die alles Unbestimmte und Unklare zu Etwas erst machen.

Auge um Auge, Zahn um Zahn

Vor die Rache hat sich das Recht gesetzt: Militärische Gegenwehr, das sind keine Vergeltungsschläge, sondern durch das Völkerabkommen legitimierte Reaktionen staatlicher Souveränität.

Deutschlandtempo

Anders als auf der Straße ist in der Politik die Überholspur weder äußerst links noch äußerst rechts.

Zugestiegen?

Durch das Bahnabteil dringt es fordernd: „Zugestiegen?“ fragt der Schaffner die Reisenden. Einer reagiert nicht wie erwünscht, indem er sein Ticket einfach aus der Tasche zieht und dem Zugbegleiter stumm vor die Nase hält. „Zugestiegen??“ Der Kontrolleur baut sich vor ihm auf. „Das sehen Sie doch“, antwortet der Passagier. „Ich sehe gar nichts.“ „Dann kann ich Ihnen auch nicht helfen.“ Die Stimmung kippt. „Zum letzten Mal: Sind Sie zugestiegen?“ „Ja, was denn sonst“, reagiert der Fahrgast unwirsch. „Oder wie kommen Sie so in den Waggon?“

Barbarei

Die schlimmste Form einer Erniedrigung der Zivilisation in ihrer Grausamkeit ist, dass deren Erwiderung in jene krude Rache mündet, die selber barbarisch ist.

Bekannt, nicht erkannt

Auf einer Party neben jemandem zu sitzen gekommen, dessen Gesicht im Niemandsland der Erinnerung abgespeichert war, irgendwie bekannt, doch nicht zuzuordnen. Nicht einmal die Vorstellung mit dem Vornamen half. Nach dem Smalltalk zum Aufwärmen die unausweichliche Frage: Und du? Was machst du so? Ich bin beim Fernsehen. Vor oder hinter der Kamera? Vor … Täglich, zur besten Sendezeit. Der Groschen fiel auch da noch nicht. Erst der vollständige Name klärte auf. Und es stellte sich nicht ein, was sonst oft passiert im Gespräch mit Prominenten: die Qual der Befangenheit, die gelegentlich das Interesse am anderen schnell versiegen oder sich überschlagen lässt in hysterische Neugier. Nichts ist entspannter als eine Begegnung im Schutz der Anonymität oder Ignoranz. „Das Bekannte überhaupt“ schreibt Hegel begriffstheoretisch bedeutsam, „ist darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt.“* Wie wohltuend, möchte man wider den Sinn des Satzes hinzufügen.

* Phänomenologie des Geistes, 35