In seiner zeitlichen (ziemlich kurz) und räumlichen Beschränkung auf das Frankreich Ende des 17. Jahrhunderts hat sich Michel Foucault geirrt. Aber als beschriebe er unsere gegenwärtige politische Welt, in der durch schnelle Dekrete, Abschiebung und Drohung mit Gefängnis gesellschaftliche Fakten geschaffen werden, hat er vor fast fünfzig Jahren Formen absolutistischer Macht untersucht.
„Das System aus Siegelbrief und Einsperrung war nur eine ziemlich kurze Episode: kaum länger als ein Jahrhundert und auf Frankreich beschränkt. Gleichwohl hat es seine Bedeutung in der Geschichte der Mechanismen der Macht. Und zwar bringt es nicht den spontanen Einbruch der königlichen Willkür, sondern eher deren Aufteilung in komplexe Bahnen und in ein Spiel von Ansprüchen und Antworten. Mißbrauch des Absolutismus? Vielleicht. Doch nicht in dem Sinne, daß der Monarch seine eigene Macht schlicht und einfach mißbraucht, sondern in dem Sinne, daß ein jeder die Enormität der absoluten Macht für sich, zu seinen eigenen Zwecken und gegen die anderen verwenden kann; die Mechanismen der Souveränität stehen jedem zur Verfügung; jeder, der geschickt genug ist, kann ihre Effekte zu seinen Gunsten verwenden. Daraus ergeben sich einige Konsequenzen: die politische Souveränität läßt sich auf das elementarste Niveau des Gesellschaftskörpers herab; von Untertan zu Untertan – und es handelt sich manchmal um die niedrigsten; unter den Mitgliedern ein und derselben Familie, innerhalb von Nachbarschafts-, Interessen-, Berufs-, Rivalitäts-, Haß- und Liebesbeziehungen kann man außer den traditionellen Autoritäts- und Gehorsamswaffen auch das Instrumentarium einer politischen Macht zu Geltung bringen, die die Form des Absolutismus hat; jeder kann, wenn er das Spiel zu spielen weiß, für den anderen ein schrecklicher und übergesetzlicher Monarch werden: homo homini rex; eine ganze Kette der Politik überkreuzt sich mit dem Einschub des Alltäglichen.
Aber diese Macht muß man sich wenigstens für einen Augenblick aneignen, man muß sie kanalisieren, erschleichen und in die gewünschte Richtung leiten; man muß sie, um sie für sich ausnützen zu können, „verführen“; sie wird gleichzeitig als Objekt von Begehrlichkeit und das Objekt von Verführung; sie wird also ansehnlich und dies in dem Maße, in dem sie fürchterlich ist. Die Intervention einer unbegrenzten politischen Macht in die Verhältnisse des Alltags wird also nicht nur annehmbar und vertraut, sondern zutiefst gewünscht und gleichzeitig und aus demselben Grund auch allgemein gefürchtet.
Dieser Hang hat allmählich die taditionellen an die Familie gebundenen Zugehörigkeits- und Abhängigkeitsverhältnisse auf die administrativen und politischen Kontrollen hin geöffnet. Und so muß man sich auch darüber nicht wundern, daß die maßlose Macht des Königs, die derart inmitten der Leidenschaften, der Rasereien, der Elende und der Gemeinheiten funktioniert hat, trotz oder vielmehr wegen ihrer Nützlichkeit, zu einem Gegenstand der Verabscheuung werden konnte. Diejenigen, die die Siegelbriefe einsetzten, und der König, der sie erließ, wurden Opfer ihrer Komplizenschaft: erstere haben ihre traditionelle Autorität mehr und mehr zugunsten einer administrativen Macht verloren; und der König, der jeden Tag in soviel Haß und Intrige verwickelt war, ist hassenswert geworden.“*
* Michel Foucault, Das Leben der infamen Menschen, 32ff.