Tag: 2. Mai 2025

Zum Ausdruck bringen

Aus einer Freitagabendlektüre

„Ein Künstler, welcher in der wenn auch künstlerischen Nachahmung der Naturerscheinungen kein Ziel für sich sieht und ein Schöpfer ist, welcher seine innere Welt zum Ausdruck bringen will und muß, sieht mit Neid, wie solche Ziele in der heute unmateriellsten Kunst – der Musik  – natürlich und leicht zu erreichen sind. Es ist verständlich, daß er sich ihr zuwendet und versucht, dieselben Mittel in seiner Kunst zu finden. Daher kommt das heutige Suchen in der Malerei nach Rhythmus, nach mathematischer, abstrakter Konstruktion, das heutige Schätzen der Wiederholung des farbigen Tones, der Art, in welcher die Farbe in Bewegung gebracht wird usw. Dieses Vergleichen der Mittel verschiedenster Künste und dieses Ablernen einer Kunst von der anderen kann nur dann erfolg- und siegreich werden, wenn das Ablernen nicht äußerlich, sondern prinzipiell ist. D.h. eine Kunst muß bei der anderen lernen, wie sie mit ihren Mitteln umgeht, sie muß es lernen, um dann ihre eigenen Mittel prinzipiell gleich zu behandeln, d.h. in dem Prinzip, welches ihr allein eigen ist. Bei diesem Ablernen muß der Künstler nicht vergessen, daß jedes Mittel eine ihm geeignete Anwendung in sich birgt und daß diese Anwendung herauszufinden ist.“*

* Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst, 54f.