3. Sonntagskolumne: Peinlichkeit

… Es ist weniger der Akt als vielmehr dessen schmerzhafte Wirkung, die Anlass gibt, eine Situation peinlich zu nennen. Die Pein, abgeleitet aus dem griechischen Wort für Strafe, stammt aus einem Weltbild, in dem eigenem Tun auch ein entsprechendes Ergehen zugefügt wird. Zwischen der Handlung und dem Los, das Menschen erfahren müssen, wird ein Zusammenhang vermutet, der in diesem Wirken selber liegen soll. Doch anders als in den mythischen Bildern vom Tun-Ergehen, die Gott, dem konsequenten Weltenherrscher, moralische Autorität und daher ein Eingriffsrecht zusprechen, tritt hier die Öffentlichkeit ins Feld. Nur vor ihr ist überhaupt etwas peinlich. Sie straft, ohne dass sie sich dafür eigens engagieren müsste. Woher nimmt die Öffentlichkeit eine derart große Macht? Der Peinlichkeit steht das Sehen gegenüber. Allein vor dem allgegenwärtigen Auge, eines Einzelnen oder der Vielen, entsteht das peinigende Gefühl. Weil der Verborgenheit entrissen, verliert eine Handlung ihren Ort, die Zugehörigkeit, die sie im Erträglichen hält. Die Peinlichkeit reflektiert Handlungen, die heimatlos geworden sind …

Aus den Tagesrationen. Ein Alphabet des Lebens. Das Buch erscheint in diesem Herbst.