4. Sonntagskolumne: Nachbarn

… Nichts ist dem Menschen ärger als die unabwendbare Tatsache, dass es Nebenmenschen gibt. Und nichts ist ihm zugleich selbstverständlicher. Zwischen den Extremen des Alleinseins und der Masse entwickelt er seine spezifischen Formen von Einsamkeit. Zu ihnen gehört in gleichem Maß die Sehnsucht, verstanden zu werden, wie der Wunsch, in Ruhe gelassen zu sein. Es ist also kein großes Feld, auf dem sich Nachbarschaft entwickeln kann. Sie repräsentiert die Nähe, die auf nichts baut als auf räumliche Nähe. Das lässt ihr den Auslegungsraum, sich zur Freundschaft zu verfeinern oder in eine Verfeindung zu münden. Beides ist gefährdet durch den Zwang, einander auszuhalten. Man kann sich nicht aus dem Wege gehen, weiß aber nicht immer, ob man sich auf dem Weg begegnen will. Nur selten gelingt, sich die Nachbarn auszusuchen. Allenfalls darf man sie in einem Milieu vermuten, das einem selber angemessen ist. Im besten Sinn kann Nachbarschaft bestimmt sein über Hilfe, also jene selektive Unterstützung, die auf gelegentliche Nähe angewiesen ist, ohne dass sich daraus schon eine Beziehung ableiten muss…

Aus den Tagesrationen. Ein Alphabet des Lebens. Das Buch erscheint in diesem Herbst.