Anfangsverdacht

Ein Hinweis auf die Selbstbeschränkung des Rechts in Zeiten, da Urteile öffentlich gefällt werden, sobald in der giftigen Mélange aus Anfangsverdacht, Mutmaßungen, spekulativen Rückschlüssen, allgemeiner moralischer Entrüstung, berechnendem Populismus und gezielter Indiskretion die Zutaten zum Verdikt bereit gestellt sind: Montesquieu, der französische Aufklärer und Staatsdenker des achtzehnten Jahrhunderts, mahnt, die Gesetze nicht zu korrumpieren durch die freigelassenen Kräfte der Phantasie und nennt beim Namen, was das Recht wird, wenn es auf mehr zielt als auf Fakten – Tyrannei. „Einem Marsyas träumte, er schnitte Dionys die Gurgel durch. Dieser ließ ihn hinrichten und gab an: wenn Marsyas nicht tags daran gedacht hätte, würde er nachts nicht davon geträumt haben. Das war ausgesprochene Tyrannei: selbst wenn er daran gedacht hätte, so hatte er doch keinen Versuch gewagt. Die Gesetze haben nur die Aufgabe, äußere Handlungen zu ahnden.“*

* Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, XII, 11