Kategorie: Allgemein

Das gespaltene Europa

Ein Riss geht durch den Kontinent. Doch wo verläuft er?

Copyright Atlas of prejudice

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Traumdeutung

Die Anfälligkeit einer Gesellschaft für Ideologien wächst in dem Maße, wie sich die Politik nicht mehr orientiert an der Lebenswirklichkeit jener Menschen, für die sie Regeln formuliert. Das ist zwar ein allbekanntes Verhalten. Dennoch überrascht, dass diese Bürger auf regierungsamtliche Traumtänze nicht mit einer verstärkten Zuflucht in die Realität reagieren, sondern mit einem zweiten, noch luftigeren Traumgebilde antworten. Geht es also gar nicht um den Ernst der Weltnähe, um Sachlichkeit oder substantiellen Pragmatismus? Was in der Psychoanalyse Realitätsdichte heißt, taugt nur so weit als Kriterium für die Qualität eines Handelns, wie sich an ihm dessen Sozialverträglichkeit bemessen lässt. Ob ein Tun als sinnvoll angenommen wird, entscheidet nicht dessen Beziehung zur Wirklichkeit, sondern die Eigenschaft, Leben erträglich sein zu lassen. Ideologien sind die Neurosen einer Gruppenseele, die keiner Aufklärung bedürfen, wenn sie diese Funktion erfüllen.

Ich auch

Wie oft steckt hinter einer fein ausformulierten Frage die schlichte Botschaft: „Ich auch!“

Illustration Christoph Niemann

Versuch über den guten Manager

Was zeichnet einen guten Manager aus? Eine höchst unvollständige Sammlung von wesentlichen Eigenschaften:

1. Verlegenheit: Er muss lachen können. Über sich; mit anderen. Die Sache ist dramatisch genug. Aber sie ist nicht tragisch. Manchmal rutscht die Rolle des Managers ins Komische, auch unfreiwillig. Etwa wenn er den Staatsmann spielen muss, außen- wie innenpolitisch. Verlegenheit ist das Gespür für problematische Situationen, für die eine Lösung nicht gleich bereitliegt. In solchen Fällen hilft Distanz, nicht selten Selbstdistanz. Sie erst schafft jene Befreiung, als deren zuverlässiges Signal ein Lachen gelten darf. Viele Manager stehen, je länger sie mit der Funktion betraut sind, so weit neben sich, dass sie nur wenig noch erreicht. Da spricht man besser nicht von Distanz, die ja eine Maßformel für Nähe darstellt, als vielmehr von Stumpfheit. Der Verlegene gibt unwillkürlich kund, dass er sich noch erreichen lässt.

2. Vertrauen: das Wichtigste überhaupt. Und das Gefährdetste. Denn einmal verloren, lässt es sich nicht wieder herstellen. Vertrauen will sich allenfalls einstellen. Zuverlässig ist es da, wenn es keinen Anlass gibt, über es zu sprechen. Man kann gar nicht über Vertrauen ausführlich reden, ohne es in Frage zu stellen. Es gehört zu jenen fragilen Hintergrundeigenschaften, die sich nicht fassen lassen, wenn man nach ihnen greift. Als Selbstvertrauen in die eigenen Kräfte, Weiterlesen

Zur Zeit

Sein Verständnis von Lebenskunst erschöpfte sich darin, dass er notorisch zu spät kam. Mit der Unpünktlichkeit nahm er es so genau, dass man fast schon wieder die Uhr danach stellen konnte.

Selbstbewegung

Im Lernen motiviert ist, wer sich von dem Versprechen hat locken lassen, die eigene Souveränität zu gewinnen. Eine Sache beherrschen meint, von ihr unabhängig zu sein.

Hanglage, Meerblick

Sie steht leicht abseits der dröhnenden Männerrunde. Die Reden zum Neujahrsempfang in der Investmentbank sind beendet. Nun drängen die Gäste gelöst zum Buffet, den zweiten Drink im Glas. Der Blick über die nächtliche Stadt aus dem oberen Geschoss des Hochhauses ist atemraubend. „Gehören Sie auch zu der Branche?“ fragt er, das Gespräch suchend. „In gewisser Weise, ja“, erwidert sie. „Ich bin Maklerin.“ „Und die Geschäfte … ?“ „… Gehen bestens“, ergänzt sie und fügt mit unergründlichem Lächeln an: „Ich bin auf Luftschlösser spezialisiert, in allen Größen.“ „Ein Traumberuf“, antwortet er irritiert. Die Unterhaltung dauerte noch lang, ohne dass er erfahren hätte, was sie wirklich macht.

Nachdenken über alles

„Ich muss nachdenken, über alles.“ Wenn sie diesen Satz sagt, bedeutet er schon die Lösung – die einer Beziehung. Wenn er diesen Satz sagt, sucht er nach einer Lösung, auch der der Beziehung. Je nachdem, wer es ausspricht: Dasselbe Wort ist im Mund eines anderen ein anderes.

Verstehste Bahnhof

Tagelang hat er in einem Buch gelesen und sich durch dessen Seiten gequält in der beharrlichen Ahnung, es könnte ein wichtiges sein. Fast jeder Satz war zu schwer, um ihn einfach im gewohnten Lektüretempo abzuhandeln. Und immer vermittelte er ihm das Gefühl, auf ihn gerade käme es an. Worauf es dem Autor im Ganzen angekommen sei, er wüsste es zu sagen, wenn er nicht danach gefragt würde. Beim ersten Versuch kam er ins Stocken. Noch einmal lesen? Unbedingt nötig, es stehe ja allzu Kluges drin. Wenn wieder mehr Zeit zur Verfügung stünde – also nie? Das Werk beiseite legen? Geht nicht. Es hält gefangen, ohne dass man wirklich wüsste, was es sei, das da so anziehend ist. Eine Falle: der Anfang von intensiver Arbeit. Denken beginnt oft damit, dass man versteht, nicht zu verstehen.

Liebesspielverderber

„Wir kennen uns erst seit zwei Monaten“, erklärt der Mitreisende im Zugabteil sein frisches Liebesglück. „Und wir ergänzen uns so gut“, ergänzt sie mit dopaminstrahlendem Lächeln. Da platzt dem unfreiwilligen Zeugen einer saftigen Schmuseszene der Kragen der Höflichkeit, und er erwidert mürrisch: „Was sich ergänzt, enthält immer ein gehöriges Potential zur künftigen Gegnerschaft.“

Das Wir entscheidet

Der stärkste Grund für Gemeinschaft: die Einsicht, dass es dem anderen auch nur um sich geht. Darin sind wir uns alle tief verbunden.

Wir für mehr Ich: Die Gewerkschaft mobilisiert die Massen

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Bedarfsgemeinschaft

Nichts hässlicher als das Bürokratenwort „Gesprächsbedarf“, von einer Frau gesprochen. Es sorgt für Kratzen in der Kehle und einen staubigen Mund.

Auflösungserscheinungen

Strategisch denken bedeutet, der Frage vor der Antwort stets einen Vorrang einzuräumen. Entgegen einem gut beleumundeten Vorurteil in der Wirtschaft ist der Stratege weniger an Lösungen orientiert, denn an Auflösungen interessiert. Nichts stört ihn mehr als festgeschriebene Glaubenssätze, Standards und Stereotypen.

Gruppenzwang

Es ist Zeit, auf dem Dachboden der Sprache in der Kiste mit den abgelegten Wörtern zu wühlen. Da findet sich, leicht angestaubt, der „Mitläufer“. Nach dem Ende des Kriegs war er eine Kategorie der Anklage im Spruchkammerverfahren bei den Prozessen der Entnazifizierung. Ihm, der politisch grauen Maus, wurde zugerechnet, dass er sich nicht aus innerer Überzeugung an den Verbrechen beteiligt hatte. Sein Vergehen war, eine zerstörerische Ideologie als Massenbewegung aufgewertet zu haben. Aber die Frage nach der Verantwortung lautet nicht nur: Was hast du gesagt? Oder: was hast du getan? Mehr denn je lautet sie im Zeitalter digitaler Kommunikation auch: Mit wem machst du dich gemein?

Kurvendiskussion

Die Ökonomin erklärt die inverse Zinskurve: Was das bedeutet, dass du mehr Geld bekommst, solange du es nicht langfristig anlegst? Das ist wie bei einem One-Night-Stand. Da bekommst du auch die höhere Prämie, wenn du auf die kurze Frist setzt. Kaum bist du drin, bist du auch schon wieder draußen. Wirklich spaßig findet das keiner. Am Ende zerstört das den Wert der Sache. Und die (Anleger-)Moral bleibt auch auf der Strecke.

Fuck you, Ego

Befreiung: der Entschluss, sich von sich selbst nicht alles gefallen zu lassen.

Auslegungssache

Man müsse den Islam vom Islamismus befreien, heißt es jetzt wieder allenthalben. Nein, nicht wir – das hat er schon selber zu tun. Und das beste Mittel ist die Hermeneutik. Solange es einen Streit ums Verstehen der Texte gibt, muss einem nicht bang sein, dass sie ideologisch missbraucht werden. Auch heilige Worte sind interpretierbar. Alles kommt darauf an einzusehen, dass die Schriften nie anders zu haben sind als über deren Auslegung; und dass damit eine Auseinandersetzung einsetzt, wie sie angemessen zu erfassen sind. Der Respekt vor einer Tradition verlangt die Anerkennung der Verschiedenheit ihrer Lesarten und der Wertschätzung eines Konflikts zwischen den differenten Deutungsformen.

Kalkül des Unberechenbaren

Beunruhigender als das, was geschehen ist oder noch geschehen könnte, wirkt allemal, dass man nicht sieht, wie es zu verhindern ist. Die Paradoxie der Terrorbekämpfung: Man muss das Kalkül des Unberechenbaren entziffern. Der Gegner setzt auf den Einzelnen, um den Individualismus zu zerstören. Er nutzt die Erfindungen der Moderne, um sie zu vernichten, und beruft sich auf Gerechtigkeit, um das Recht durch die Willkür zu ersetzen. Da ist die Logik selbst aus der Ideologie gewichen.

Lose-Lose-Situation

Wann hat der radikale Verlierer triumphiert? Wenn alle anderen auch zu Verlierern geworden sind, weil es nichts mehr zu gewinnen gibt. Sein Kampf ist in dem Moment zu Ende, da die Niederlage total ist und er, der nie siegen konnte, sich nun vereint fühlen kann mit all den anderen, denen er geraubt hat, was sie überlegen sein ließ: Zutrauen, Freiheit, das Wort, Respekt oder Toleranz, Gesten der Freundschaft, das Recht und die Suche nach Gerechtigkeit – kurz: eine offene Gesellschaft. Der größte Feind dieser Art zu leben ist der Geist der Niedertracht, mythisch gesprochen: das Böse. Alles kommt darauf an, sich nicht infizieren zu lassen.

Der radikale Verlierer

„Was aber geschieht, wenn der radikale Verlierer seine Isolation überwindet, wenn er sich vergesellschaftet, eine Verlierer-Heimat findet, von der er sich nicht nur Verständnis, sondern Anerkennung erwartet, ein Kollektiv von seinesgleichen, das ihn willkommen heißt, das ihn braucht? Dann potenziert sich die destruktive Energie, die in ihm steckt, zu letzter Skrupellosigkeit, es bildet sich ein Amalgam von Todeswunsch und Größenwahn, und aus seiner Ohnmacht erlöst ihn ein katastrophales Allmachtsgefühlt. Dazu wird allerdings eine Art ideologischer Zünder benötigt, der den radikalen Verlierer zur Explosion bringt. Wie die Geschichte zeigt, hat es an solchen Angeboten nie gefehlt. Auf den Inhalt kommt es dabei zuallerletzt an. Gleichgültig, ob es sich um religiöse oder politische Doktrinen handelt, um nationalistische, kommunistische, rassistische Dogmen – jede noch so bornierte Art von Sektierertum ist in der Lage, die latente Energie des radikalen Verlierers zu mobilisieren … Der radikale Verlierer kennt keine Konfliktlösung, keinen Kompromiss, der ihn in ein normales Interessengeflecht verwickeln und seine destruktive Energie entschärfen könnte. Je aussichtsloser sein Projekt, desto fanatischer hält er an ihm fest.“*

*Hans Magnus Enzensberger, Schreckens Männer. Versuch über den radikalen Verlierer, 19ff.

Verkehrte Welt

Hierzulande muss man nur Randgruppe sein, um gewiss in den Mittelpunkt gestellt zu werden.

Drei-Königs-Treffen

Den falschen Hütern des Abendlands ins Gedächtnis geschrieben: der erste Besuch beim Weltenerlöser kam aus dem Morgenland.

Katz und Maus

Der deutlichste Ausweis von Macht ist, auf sie jederzeit verzichten zu können, ohne sie im Ganzen zu verlieren. Man achte nur auf die Katze. Mit ihrer Pfote hält sie die zitternde Maus darnieder, beschnuppert sie, wendet sie und lässt sie für Momente laufen. Es ist ein Machtspiel. Denn wann immer sie die Lust packt, kann die Katze die Maus sich wieder holen und dem Treiben mit einem tödlichen Biss das Ende bereiten. Der Mächtige ist vor allem Souverän seiner Zeit.

Alles für die Katz: Postkasten für Leseratten

Alles für die Katz: Postkasten für Leseratten

Prognosen und Prophezeiungen

Zukunft: das ist die Zeit der Prediger, Schwindler und Vermögensverwalter.