Kategorie: Allgemein

Kurz desorientiert

Selten noch, dass man mangels eines Navigationsgeräts auf der Suche nach dem richtigen Weg fragen muss. Es sind meist die interessantesten Kurzbegegnungen, weil zu beobachten ist, wie ortskundige Menschen sich für den Moment selber orientieren müssen. Es ist, als hätte man sie aus dem Tiefschlaf gerissen. Nun brauchen sie eine kleine Weile, um zu bestimmen, wo sie sich gerade aufhalten. Zu Hause zu sein bedeutet: vergessen zu können, wo man ist. Erst der Fremde macht das Eigene bewusst.

Was willst du? Was weiß ich

Wer sich nicht gut entscheiden kann, leidet daran, zu viel zu wissen und zu wenig zu wollen.

Kalte Füße

„Lass uns abhauen, die Sache hier wird mir zu heiß.“IMG_3735

Kosmopolit

Ohne Falsch konnte sich einst Weltbürger nennen, der wie Immanuel Kant seinen Königsberger Landkreis nie verlassen hatte. Es war eine Frage politisch großer Gesinnung. Anders der globalisierte Zeitgenosse: Weit gereist, weiß er sich in einer Handvoll Sprachen verständlich auszudrücken und bleibt dennoch in seinem Wesen allzu oft Provinzgeist.

Zivilisationsfortschritt

Früher wurden die Überbringer unangenehmer Wahrheiten getötet, heute werden sie entlassen.

Zu dir oder zu mir?

Eigentum verpflichtet. Besitz verpflichtet zu nichts:
Zweideutige Einladung ins Hotelzimmer.IMG_3705

Schwindsucht

Der Entmutigte verliert mit dem Mut auch die Feigheit. Was übrig bleibt? Das Gefühl, dass auch das Nichts etwas ist: Wir nennen es Leere.

Langeweilevertreibungsstrategie

Die beste Voraussetzung für die Entwicklung von Neuem ist, sich zu langweilen. Die schlechteste, dass man gelangweilt wird.

Teekesselchen

In der Logik gehört die Äquivokation zu den Fehlschlüssen. In der Rhetorik wird sie seit alters aus moralischen Gründen abgelehnt; als geistreiche Wendung jedoch ästhetisch geschätzt (Cicero, Über den Redner 2, 250; Quintilian, Ausbildung des Redners VI 3, 49). IMG_3731
Eine Kurzgeschichte aus homonymen Sprachspielereien, gleichklingend und sinnverschieden:
Die Dinnerrede war viel zu lang doch jetzt endlich beim Essen mal zu.
Seine Überzeugungen trug er vor mit fester Stimme ihm gleichwohl nicht zu.
Als er das merkte, wurde er laut Küchenpsychologie ist das ein Zeichen von Unsicherheit.
Er fand das schick ihn zum Teufel oder lass uns gehen.
Als sie mit mir in ihrem Cabrio durch die City raste noch ein Weilchen bei mir.
Deine Haut ist so wunderbar weich mir nicht mehr von der Seite.

Verlaufen

Was ich noch sagen wollte:
A → B → C ≈ A
↓                    ⁄
U → D ≡ ¬ A → B → C?

A ↔ A ≠ B
→ …
Was wollte ich gleich noch sagen?

Der Prozess

Muss erst ein spektakuläres Steuerverfahren daran erinnern, dass Geld weit mehr ist als eine ökonomische Größe?

Unfallprotokoll

„… und dann fingen sie plötzlich an zu streiten. Er hänselte sie mit irgendeinem Mitschüler, in den sie verliebt sei. Sie lief erst rot an, schließlich schrie sie und schlug wild um sich. Als sie mich mit aller Wucht warf, duckte er sich auf die Rückbank. Ich flog bei voller Fahrt durch das geöffnete Fenster und landete weich auf dem Seitenstreifen. Glück gehabt.“

A 66

A 66

Zwischen Mut und Wut: Das Geständnis

In der Erhebung über einen, der im Leben gefehlt hat und dies bekennt, ist der nächste Absturz schon vorbereitet. Moralische Empörung erklimmt meist nur die Fallhöhe, von der der Entrüstete bei nächster Gelegenheit kippt.

Transitstation

Der Wintergarten ist der Übergangsmantel in der Architektur: so altmodisch wie dieser und so überflüssig, nichts für drinnen und nichts für draußen.

Ratlos vor dem Kleiderschrank

„Was für eine aufregende Stoffkombination.“ Eine Frau ist immer originell angezogen. Der Mann hingegen hat die Wahl zwischen gut und schlecht.

Götterfrevel

Mitten im schönsten Bürgerviertel müht sich seit vielen Jahrzehnten die traditionsreiche Buchhandlung um die hohe Qualität ihres ausgewählten Lesefutters. Sie hat trotz der Großhändler im Zentrum und im Netz überlebt, zurecht und gar nicht schlecht. Manchmal kommt man nur, um in den Regalen zu stöbern und sieht sich unversehens in ein Gespräch verwickelt über den jüngsten Szeneklatsch, die vielgerühmte Neuerscheinung, den wunderschön illustrierten Vogelband. Auch der stadtbekannte Philosoph ist diesmal dort, diskret parlierend mit der Hausherrin. Dennoch hört er, wie ein Kunde den Titel eines gern gelesenen Kollegen, den des denkenden Konkurrenten, bestellt und wirft unvermittelt den Kopf herum. „Irritiert?“ fragt der. „Interessiert“, antwortet der Philosoph und wendet sich rasch wieder ab, um nicht zu zeigen, dass er sich wie ein Tölpel ertappen ließ. Da spielte die Geste dem Gesagten einen Streich und verriet vergnügt, dass der Buchkäufer allzu grob gegen das erste Gebot der Philosophen verstoßen hatte, welches in guter Überlieferung lautet: Du sollst keine anderen Götter neben mir haben.

Rhetorische Diät

Kurze Rede. Langer Sinn.

Machtlogik

Putins Perspektive: Der Ukrainer ist eigentlich ein Russe, der so tut, als sei er ein Europäer.

Bilanzrechnung der Fastenzeit

1. Der Verlust ist kein Gewinn.
2. Weniger ist dennoch mehr.
3.

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Irgendwie genau

Auch Wörter haben Konjunktur. Wie Mückenschwärme in der Abenddämmerung tauchen sie auf und verschwinden nach einiger Zeit wieder, als sei nichts gewesen. Die Wendung „irgendwie“ war eine solche Sprachmode. Viele fügten sie inflationär in Sätze ein, meist an Stellen, an die sie gar nicht gehörte. Irgendwie war das schon richtig. Und irgendwie wendete das Wort jede Aussage ins Unverbindliche. Inzwischen ist „Irgendwie“ irgendwohin verschwunden und ersetzt, als sei das Gegenteil gefordert, durch den Ausdruck „genau“. Als Bestätigung steht er hinter einfachsten Einlassungen. Genau. Auch dieses nachgestellte Genau wird so häufig gebraucht, dass dessen Bedeutung im Satz unklar bleibt. Keine Bestimmtheit, nicht einmal eine kleine Bekräftigung. Da ist nichts Genaues im „genau“. Irgendwie hat man den Eindruck, „genau“ würde dasselbe meinen wie „irgendwie“. Genau.

Les jeux sont faits

Alter: die Extra-Leben eines Menschen sind verbraucht. Nun geht es an die Substanz.

Worauf wartest du?

Hoffnung ist die Versöhnung mit der Zukunft.Unterwegs

Die rote Linie

Seit dem Eintritt von Großbritannien in den Krimkrieg 1854 unterliegen militärische Konflikte der öffentlichen Kontrolle, und damit dem Gerangel zwischen wahrheitsverpflichteter Beschreibung und propagandistisch eingefärbter Erzählung. William Howard Russell berichtete als erster offizieller Kriegsreporter von den Kampfhandlungen in Briefen an den Verleger der Times, so dass ein großes Leserpublikum, unter ihm der fleißig exzerpierende Friedrich Engels*, Zeugen wurden von anschaulich geschilderten Schlachtendramen. Russells Findigkeit, sich Reittiere zu beschaffen, und der Mut, an die Frontlinien heranzutreten, erlaubten ihm, die Auseinandersetzungen zwischen den Armeen photographisch präzise zu schildern und machten schließlich seine detailgenauen Zeitungsartikel von verlustreichen Vorstößen der britischen Generäle für die Regierung in London zu einem peinsamen politischen Ärgernis. In unmittelbarer Folge der Publikationen stürzte das Kabinett des Premierministers Aberdeen. Eine zweite Front war eröffnet: die mediale. Wir verdanken Russell sprachmächtige Redewendungen wie: „Er bewegt sich wie einer mit Blut an den Händen“, oder die Bemerkung über die „dünne rote Linie“, die nicht überschritten wurde, weil das 93. schottische Regiment in roten Uniformen trotz Unterzahl die Verteidigungslinie wider die Russen aufrecht erhielt. Allerdings waren seine Presseveröffentlichungen auch der Anlass, die Militärzensur einzuführen bis hin zum embedded journalism. Der aktuelle Krim-Konflikt bedient sich dieser Mittel in Perfektion, wenn er Bilder und Worte nutzt, um die eigene Deutungsmacht zu etablieren. Man kann hoffen, dass an der Stelle, wo der Kalte Krieg zwischen Ost und West wiederkehrt, auch dessen Beschränkung auf Manipulation und Propagandafeldzüge, Drohungen oder Wirtschaftssanktionen eingehalten wird und die „Rote Linie“ als Metapher der letzten Grenze absolut gewahrt bleibt, hinter der nur noch „menschliches Barbarentum“ (auch ein Sprachbild von Russell) vorherrscht.

* Karl Marx / Friedrich Engels, Gesamtausgabe (MEGA), 4. Abt., Bd. 12, 1054

Metamorphose des Nichts

Es fällt schwer, sich vorzustellen, dass jene Hohlköpfe, die mit ihren leeren Phrasen uns für dumm verkaufen, einst als Kinder anderen Löcher in den Bauch gefragt haben.