Kategorie: Allgemein

Überreif für die Insel

Beim Strandspaziergang: Was für ein Getriebe im Sand.

Uncoole Untiefen

In ihrer Unberechenbarkeit unübertrefflich sind Menschen, die sich die Launen von der eigenen Sentimentalität vorschreiben lassen. Jeder Versuch, sie im plötzlichen Stimmungswandel noch zu verstehen, wird unterlaufen durch die Zufälligkeit irgendeiner sonderlich schmerzhaften oder außerordentlich beglückenden Erinnerung.

Solostück

Nachts um halb zwei ist der Hauptbahnhof menschenleer. Nur das Echo der eigenen Schritte begleitet den einsamen Spätankömmling durch die mächtige Halle und das Gefühl, zur Unzeit in das Gebäude eingefahren zu sein. Warum nur ist das beklemmender als eine überfüllte, von Massen durchflutete Station, in der man sich auf die Füße tritt, den Ellbogen in die Rippen rempelt, das eigene Wort im Getöse der vielen Geräusche nicht mehr versteht? Man mag es nicht, dort auf der Bühne zu stehen, wo man sonst nur Zuschauer ist: in schlecht besuchten Fußballstadien, auf Kirchenbänken ohne Nachbarn, an Haltestellen, die keiner nutzt.

Schön und gut

Schon immer vergeblich hat die Ethik versucht, so anziehend zu wirken wie die Ästhetik. Logisch, wer hier wen verführt.

Zürich, Altstadt

Zürich, Altstadt

Der Ernst der Lage

Wenig macht so aggressiv wie Vertreter der sogenannten gewaltfreien Kommunikation, die zwar darauf spezialisiert sind zu fragen, welches Motiv einen veranlasst, das und nicht jenes zu sagen, aber schlicht nicht hören wollen, was man sagt.

Rausschmeißer

Die wenigsten bleiben im Kino sitzen, wenn der Abspann läuft, wenn die Darsteller den Rollenfiguren zugeordnet werden, die Autoren genannt, auf die Komponisten samt gespieltem Stück verwiesen wird, die Danksagungen an die örtliche Polizei oder an die Modemarken genannt werden. Es ist manchmal der schönste Moment im Film. Üblicherweise haben die Reihen sich gelichtet. Vereinzelt lümmelt eng umschlungen hier oder dort noch ein Pärchen. Kein Knacken von Popcorn, kein Tütenrascheln, kein Flüstern mehr. Nur noch Film. Dieser Augenblick verdankt sich einem weit verbreiteten Missverständnis. Mit dem Ausblenden der Kamera, dem eingeblendeten Wort „Ende“ ist der Film nicht fertig. Viele Fernsehsender ignorieren das; sie nutzen die Zeit für Werbung und halten all die minutenlang ablaufenden Reverenzen zum Schluss für überflüssig. Dabei ist der Abspann der sanfteste Abschied, den man sich vorstellen kann, ein Herausschleichen aus der erzählten Geschichte, die auf diese Weise Zeit bekommt, sich ins Gedächtnis zu schreiben. Das Finale ist ein Ende, das man auskosten kann.

Prestissimo

Ein Dirigent wie ein Matador, der sein Orchester in gemessener Übertreibung der Gesten erst reizt, dann streng fordernd mit Höchsttempo in die Erschöpfung treibt, um ihm zuletzt in einem finale furioso den dramatisch gesetzten Todesstoß zu geben.

Erna, der Baum nadelt!

Zum Geburtstag des genialen, allzu früh gestorbenen Robert Gernhardt:
Erna, der Baum nadelt – und fünfzehn weitere weihnachtliche Katastrophen.
Gelesen von Robert Gernhardt, Bernd Eilert und Peter Knorr
(zum 
Anhören auf das Bild klicken)

Robert Gernhardt

Robert Gernhardt

 

 

 

Smarter Narziss

Im Zugabteil sitzt ein Mann, der seine Morgentoilette offenkundig nicht vollendet hat. Mit erstaunlich sicherer Hand zieht er den Fruchtaroma-Pflegestift über die Lippen, cremt die Wangenhaut und kontrolliert das kosmetische Ergebnis, mangels eines Taschenspiegels, indem er ein Selbstbildnis schießt mit seinem Smartphone. Zufrieden stellt er bei porentief aufgezogenem Foto fest, dass alles perfekt sitzt.

Bärenmarkt

– Hab‘ einen Bärenhunger.
– Wehe, wenn du sie auffrisst. Sie sind so süß.
– Eben.

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Die diskrete Scham der Bourgeoisie

Psychoanalyse heißt: zu einem anderen gehen, um mit sich selbst zu sprechen. Der Therapeut sitzt hinter dem liegenden Klienten. So behält dieser die Entscheidung, ob er nur sich eingesteht, was er anderen nicht zu sagen wagt, oder einem anderen beichtet, was er sich nie selber erzählen würde.

Machtvakuum

Die Ratten versenken das verlassene Schiff.

Erst eins, dann zwei, dann …

Jetzt, in den Tagen, da von Vorfreude viel die Rede geht, muss auch auf eine kleine, entscheidende Asymmetrie hingewiesen werden: Die Nachfreude hat es nicht geschafft in den Beschreibungskanon des Glücks, obwohl sie dieses vielleicht am genauesten bezeichnet. Denn dem Glück kommt es darauf an, sich von der Einsicht, dass alles seine Zeit hat, nicht die gute Laune verderben zu lassen. So wie dem Volksmund Vorfreude die schönste Freude ist, so mag die Nachfreude die ehrlichste sein, weil sie durch alle Begeisterung hindurch enttäuschungsfest geworden ist.

In Kaffeesätzen lesen

Neulich im Rotlichtviertel:
– Na, Süßer, einen Kaffee gefällig? Du bekommst von mir ordentlich Zucker und schäumst mich dafür ein bisschen auf?
– Tut mir Leid, aber mit mir ist heute nicht die Bohne los.
– Das ist bitter.

Vor dem Café im Frankfurter Bahnhofsviertel

Vor einem Café im Bahnhofsbezirk

Lichtallergie

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Das decorum galt in der antiken Rhetorik als jene Form des Redeschmucks, durch die sich die öffentlich verhandelte Sache als passend erwies. Angemessen und schicklich sollte der Vortrag sein, wenn er für glaubwürdig gehalten werden wollte. Bei so viel Rücksicht auf das feine Gespür des Publikums trat der Wortglanz oft in den Hintergrund und schaffte einfühlsam Raum für die Gegenwart des guten Geschmacks. Was gäbe man dafür, wenn der einst zwingende Zusammenhang von Schmuck und Angemessenheit bei der Dekoration des öffentlichen Raums noch irgendetwas bedeutete.

Eingespielt

Man lese das Klein(er)gedruckte. Es verrät, wie sich spielend leicht Synergieeffekte erzielen lassen. Niemand weiß besser, wie den bedauernswerten Unglücklichen das Geld aus den Taschen zu ziehen ist, als der, welcher den Glücksspielautomaten gebaut hat.IMG_3579

Chaos, Kapriolen, Katastrophe

Jetzt kommt die Zeit, da man das Wetter wieder mit größerem Interesse verfolgt als die politischen Nachrichten.

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Gefragt zu sein, nicht nur gefragt zu werden, ist kein kleiner Unterschied, der über Wertschätzung die Öffentlichkeit konstituiert. Prominent ist, wer sich dieses verbeten kann, weil jenes unzweifelhaft ist. Bis zum Ende dieser Woche erhalten die Mitglieder der SPD Wahlzettel, auf denen sie über die Große Koalition abstimmen können. Sie werden gefragt. Wie sie entscheiden, wird davon abhängen, ob sie auch gefragt sind.

Das gute Leben

Utopische Vorstellungen von einer gerechten Welt kränkeln an der Langeweile, die sich auf solche Gesellschaften lähmend legt. Gegen diesen härtesten aller Gegner ist auch das reale politische Bemühen um sozialen Ausgleich machtlos.

Beine im Bauch

Wer schon einmal auf die Einlösung eines Versprechens zu lang vergeblich gewartet hat, weiß, dass dabei nicht nur Zeit verstreicht. Eingebüßt wird auf Dauer auch, je nach dem Gewicht der Erwartung: der Glaube an Zusagen überhaupt, die künftige Bereitschaft zur Geduld, der fröhliche Umgang mit Ungewissheit, die Fähigkeit, gedehnte Fristen auszuhalten, die Offenheit gegenüber Wechselfällen, das Zutrauen in die eigene Urteilsfähigkeit, die Lust am Experimentieren, der Genuss von Freiheit, die Erwartung, dass sich etwas zum Besseren wendet, die Unbefangenheit im Gespräch, ein selbstbewusstes Verhältnis zu sich, die trittsichere Gelassenheit im Umgang mit der Welt, die generelle Zustimmung zur Wirklichkeit, Unbedarftheit, Arglosigkeit, Mut. Im Ganzen also zerstören Situationen, in denen sich das Ja genauso wenig einstellen will, wie ein Nein sie nicht abkürzt, auf fatale Art das Leben. „Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Übel.“ (Matth. 5, 37) So verstanden, ist dieses testamentarische Wort der anti-eschatologische Satz schlechthin: Als rechnete er mit allen vergeblich hoffenden Naherwartungsphantasien ab, handelt er davon, dass der Aufschub nicht unendlich verlängert werden kann. Entschiedenheit ermöglicht das Leben, Entschlossenheit treibt es voran. Advent (wörtlich: die Ankunft) bedeutet zwar nicht, dass das Warten ein Ende hat, aber dessen Ungewissheit.

Schnupfenprosa

Als sie niesen musste, verstummten mit einem Mal alle Gespräche. Das hatte keiner erwartet: Es klang so stilgerecht, als gehörte es in ein früheres Jahrhundert, da die Frauen ihr Taschentuch als Hüter der tiefen Gefühle betrachteten und es herausfordernd fallenließen, um den Galan auf die Probe zu stellen.

Psychoanalyse der GroKo

Wie keine zuvor zeigt diese Großen Koalition Züge eines oralen Charakters. Das Ziel der langen Verhandlungen war die vollständige Anverwandlung an das Gegenüber. Was die Therapie „Projektive Identifikation“ nennt, die Einverleibung der anderen Person, nachdem zunächst Teile des Selbst abgespalten und auf sie übertragen wurden, lässt die Grenzen zwischen dem Eigenen und dem Fremden bis zur Unkenntlichkeit verschwimmen. Man sollte nicht glauben, dass der Prozess mit der Angleichung der Parteien aneinander abgeschlossen ist: Der nächste Hunger richtet sich aufs Volk.

Den Fahrschein, bitte

Schwarzfahrer, aufgepasst: Unter der neuen, kundenfreundlichen Tageslosung machen sich die Kontrolleure in der Frankfurter U-Bahn noch entschlossener auf den Weg.IMG_3567_2

Von hier nach dort

Was hat Menschen nur dazu gebracht, den armseligsten unter den Lebenswegen für den zu halten, den sie am meisten anstreben? Die Karriere verkürzt die vielen Möglichkeiten zu gehen auf den Aufstieg und reduziert die individuelle Entwicklung auf die Beförderung. Dabei weiß jeder Verständige, dass die wichtigsten Erfahrungen seit alters dort gemacht werden, wo man vom Pfad abgekommen ist, sich verlaufen hat und über einen Umweg zurückfindet in die Spur.