Kategorie: Allgemein

Ärmelfanal

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Das letzte Kapitel

Gedacht, dass die Menschheit zugrunde gehen könnte – nicht weil die Polkappen abschmelzen, die Sonne sich zum Roten Riesen aufbläht, ein Komet einschlägt, die Erde von einem Schwarzen Loch verschluckt wird, weil Außerirdische eindringen oder intelligente Maschinen die Macht übernehmen, sondern – weil uns der Bezug zur Realität abhanden kommt. Das Weltende ist der Wirklichkeitsverlust des Menschen, als Seuche betrachtet. Eine Ahnung, wie diese Krankheit sich ausbreiten könnte, verschafft uns manche Anschauung von Politik und Wirtschaft, Verwaltung oder Profisport.

Hausmitteilung

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In Stein gemeißelt sind meist jene Worte, denen zugemutet und zugetraut wird, länger zu gelten als nur im Augenblick. Von den zehn Geboten über Portalsprüche auf Gymnasienwänden bis zu den gerade abgesegneten Unternehmenswerten, die ihren Platz finden im Foyer, dient der harte Grund als Medium, das Beständigkeit vermitteln soll. So betrachtet fällt der Satz auf dem Putz eines Hauses im Frankfurter Holzhausenviertel schon durch einen dezenten performativen Widerspruch auf: Soll derart wuchtig gelten, was bloß die geringste Form von Geltung sein kann: „Wahr ist nur, dass wir nicht wissen, was wir nicht wissen“ – ? Ein schwacher Begriff von Wahrheit wird in einer starken Fassung festgehalten. Inhalt und Darstellung der Botschaft passen nicht zueinander. Oder doch? Das entscheidende Wort „nur“ bezeichnet nicht das Wenige, dem die Frage entgegensteht: „Mehr nicht?“, sondern will heißen: „nichts als …“, dem die Behauptung entspricht: „Mehr geht nicht.“ Die höchste Form von Wahrheit ist, dass wir nicht wissen, was wir nicht wissen.* Also ein Achselzucken: Was weiß ich?! Nichts Genaues offenbar. Dem platonischen Sokrates wird fälschlicherweise zugeschrieben, dass er wisse, nichts zu wissen. Gesagt hat er es nie. Die geläufige Redewendung verdankt sich aber einem längeren Passus aus der „Apologie“. Dort erläutert der angeklagte Philosoph einen Orakelspruch. Ihm, erzählt er, sei zu Ohren gekommen, dass die Pythia ihn für den weisesten Menschen halte. Weisheit, so Sokrates, sei aber eine bestimmte Einsicht in die Begrenzung des eigenen Wissens, und eben nicht dessen Fülle. „Dieser meint irgendetwas zu wissen, obwohl er es nicht weiß, aber ich, wie ich es nun nicht weiß, glaube es auch nicht.“ Warum eigentlich macht man um den Satz: Ich weiß, dass ich nicht weiß, so großes Aufhebens? Viel interessanter ist doch der Ausdruck, der nicht auf die Hausfront gedruckt ist, aber als gegenteilige Variante der Fassadenbotschaft die Bewegungsstruktur des Denkens auszeichnet: Ich weiß, was ich nicht weiß. Denn er stellt die Formel auf, die als Form einer Frage zu gelten hat. Nur wer bestimmt darüber reden kann, was ihm bisher unbestimmt geblieben ist, findet das Maß an Neugier, das ihn weiterbringt. Nur wer über dieses Wissen verfügt, kann in der Welt suchen und forschen und erhält vielleicht am Ende auch Antworten: Wer wohnt in dem Haus? Woher kommt das Wort? Was soll es bedeuten? Warum steht es an so prominenter Stelle? – Wissen, was wir nicht wissen.

*Vom Frankfurter Th. W. Adorno ein Monogramm: „Wahr sind nur die Gedanken, die sich selber nicht verstehen.“ (Minima Moralia, 254)

Lesen im Buch der Natur

Buchskulptur von Robert Gernhardt an der Hohen Straße, Bergen-Enkheim

Buchskulptur von Robert Gernhardt an der Hohen Straße, Bergen-Enkheim

Zahlen, bitte!

Erst wenn die unvermittelt neugierige Frage: „Was ist das?“ ergänzt wird durch die zweite, tiefer schürfende: „Was bedeutet das?“, darf man auch eine sinnreiche Antwort erwarten. Sinn ist eine Eigenschaft, die über Bedeutung gewonnen wird. Wer ihn entdeckt, stellt dabei zugleich fest, dass es oft mehrere Auslegungsvarianten gibt, dass Verständnis sich nicht beschränkt auf das, was offenkundig vorliegt. Das ist anders als in der einfachen Mathematik. Wo Zahlenreihen prägend sind, verbunden durch Rechenbefehle, mag Eindeutigkeit gefordert sein. Buchstaben hingegen, die aufeinander bezogen sind, verlangen Interpretation, die Anordnung zu einem Wort, die Einordnung eines Worts in den Satz, die Rangordnung von Sätzen in einem Text, die Zuordnung eines Texts zur Lebenswelt. Es sind unterschiedliche Talente. Hier die Technik, Statistiken zu ermitteln, Bilanzen zu lesen, Hierarchien zu bauen, Quoten festzustellen, Wertverluste zu identifieren, auf Chartsignale zu reagieren. Dort die Fähigkeit zu verstehen, zu bestimmen, zu überraschen, versteckt hineinzulegen, geistreich auszulassen, folgerichtig anzudeuten. Wie zwingend das Analytische dennoch auf diese synthetischen Kniffe angewiesen ist und die beiden Welten nicht voneinander zu trennen sind, zeigt die aktuelle Imagekampagne des Instituts der Wirtschaftsprüfer.idw_top_logo Sie trägt den Kinderreimtitel „Ich sehe was, was du nicht siehst“* und rechnet mit einer Überbietung dessen, was schlicht nur vor Augen liegt und für jeden sich sofort erschließt. Dabei spielt sie an auf die speziellen Eigenschaften der Zahlenmenschen, Realität rechnerisch abzubilden. Damit aus solchen Ziffernfolgen Kennzahlen werden, also jene Daten, die im Zusammenhang Informationen liefern sollen über ein Unternehmen, ein Produkt, die Monatsleistung eines Mitarbeiters, sind allerdings mehr als nur kalkulatorische Begabungen nötig: das, was viele Wirtschaftsprüfer, Unternehmensberater oder Finanzanalysten vermissen lassen, mehr zu sehen als das Offensichtliche. Auch im Zeitalter automatisierter Mustererkennung aufgrund dramatisch wachsender Rechenleistung ist der Schritt von der digitalen in die analoge Welt einer, der immer noch fußt auf der Fähigkeit, Metaphern zu verstehen und Geschichten zu entfalten, 4L50 G3N4U 4UF D3M KÖNN3N, B31B3 W3LT3N V3R5TÄNDL1CH 4UF31N4ND3R 2U B3213H3N.

*Niklas Luhmann hat eine Konferenz über die Aktualität der Frankfurter Schule vor Jahren zum Anlass genommen, deren Verständnis von kritischem, also unterscheidendem Denken eine radikalere Form des Erkennens entgegenzuhalten: An das Kinderspiel erinnernd, trägt er unter dem Titel "Ich sehe was, was du nicht siehst" eine Theorie des Beobachters vor, der seine eigene Voraussetzung – die Unterscheidung, um überhaupt beobachten zu können (dies, und nicht jenes) – nicht für sich präsent hat, also beobachtet. Es ist der blinde Fleck jeder einfachen Erkenntnis.

*Niklas Luhmann hat eine Konferenz über die Aktualität der Frankfurter Schule vor Jahren zum Anlass genommen, deren Verständnis von kritischem, also unterscheidendem Denken eine radikalere Form des Erkennens entgegenzuhalten: An das Kinderspiel erinnernd, trägt er unter dem Titel „Ich sehe was, was du nicht siehst“ eine Theorie des Beobachters vor, der seine eigene Voraussetzung – die Unterscheidung, um überhaupt beobachten zu können (dies, und nicht jenes) – nicht für sich präsent hat, also beobachtet. Es ist der blinde Fleck jeder einfachen Erkenntnis.

Kulturbanause

Er wäre nie umgezogen, wenn ihn der Freund nicht davon abgehalten hätte, sich in den Büchern festzulesen, die in den Karton sollten.

Gelegenheit macht müde

Opportunistische Systeme verschwinden nicht, indem man sie bekämpft. Sie scheitern vielmehr an ihrem Erfolg.

And I never lost one minute of sleeping*

Morgenstunde in Küsnacht, Zürich

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*Tina Turner, Proud Mary

Der Weltgeist im Sattel

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Fahrradladen in Chambésy, Genf

Wer bin ich und wenn ja, wo noch?

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Andere Vorschläge fürs Stadtmarketing:
I WAS HINGTON
BE RLIN
YOU’RE GENSBURG
HE IS TANBUL

Fluchttier Mensch

Man muss das Paradies verlassen, bevor man aus ihm vertrieben wird.

Im Herzen von Europa …*

Die junge Mannschaft von Eintracht Frankfurt verstärkt sich vor dem Spiel gegen den Championsleague-Sieger München mit erfahrenen Akteuren. Zum Samstag läuft mit dem Team ein Dino auf, der für Zoff** im gegenerischen Strafraum sorgen soll.

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*   Hymne von Eintracht Frankfurt
** Dino Zoff gilt als einer der besten ehemaligen italienischen Fußballspieler

Elternsorgen

Die neuen Erziehungsziele der Frankfurter Sparkasse

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Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren!*

Endlich entdeckt: Dantes Vorhölle.

IMG_3200*Inschrift auf dem Tor zur Hölle, Dante, Divina Commedia, Dritter Gesang, Vers 9

Nullzeit

„Aufgrund eines vor uns liegengebliebenen Güterzuges hat unser Zug derzeit eine Reisegeschwindigkeit von 0 km/h erreicht.“ Respekt, auch für die Grade an Genauigkeit, die sich mit den Textbausteinen aus dem Handbuch für den Zugchef konstruieren lassen.

Ungeheuerlich

Was macht eigentlich Nessie in diesem Sommerloch, dass es sich von einer Alligatorschildkröte in einem ostallgäuer Weiher vertreten lässt? Man würde fast sagen wollen: abtauchen, wenn das Wort in einer Zeit, in der das Whistleblowing wochenlang die Nachrichten bestimmt, nicht längst unvorstellbare Untiefen erreicht hätte.

Kunstgriff

Wenn es in der Politik statt um Gestaltung vornehmlich um Verwaltung geht, wenn statt eines Inhalts meist dessen Vermittlung entscheidet, statt Verantwortung die Frage in den Vordergrund rückt, wem man die Zuständigkeit in die Schuhe schieben kann, dann rechnet auch der Bürger nicht mehr mit der Kunst des Möglichen, sondern allenthalben mit der Möglichkeit des Künstlichen.

Nur so

Was das Widerwärtige ist in einer Welt, die durch Kontrolle beherrscht wird? Der Verlust von Vertrauen? Die versteckte Entmündigung? Das Zwanghafte? Die Förderung und Belohnung des Kleinlichen? Es ist die fortgesetzte Vernichtung des Selbstverständlichen, jener Lebensform, in der etwas nur so geschieht, nur so gedacht ist, nur so gewollt. Freiheit ist vor allem die Freiheit vom Rechtfertigungsdruck.

Hinwegsehen

Mancher Gestus der Ignoranz sieht aus wie Toleranz, wenn man nicht genau hinschaut.

Digitale Theodizee

Angesichts der totalen Überwachung durch die NSA lässt sich fragen, wieso es überhaupt noch zu Terroranschlägen kommt. Oder zu einem Zugunglück, das von einem telefonierenden Lokführer verursacht wird, der sein Gefährt mit doppelter Höchstgeschwindigkeit unaufmerksam durch die enge Kurve lenkt. Ist es abseitig, erstaunt zu sein, dass keiner die Leitung gekappt hat? Wer alles übersieht, Kommunikationsflüsse, Ortungsdaten, Bewegungsprofile, und das in Echtzeit, dem ist zuzumuten, dass er die Verantwortung übernimmt, wenn es schiefgeht. Die Geheimdienste arbeiten nicht zu gut, sondern nicht gut genug.

Hör mal, sieh doch

Sie schielte zwischen Augen und Ohren. Während sie konzentriert zuhörte, schweifte ihr Blick in die Ferne.

Positiv denken

Sein Optimismus ist unerschütterlich. Selbst verwelkenden Blumen ruft er im Vorbeigehen zu: Kopf hoch!

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Gewohnheitstier

Kaum einer, den die kurze Akkulaufzeit seines Mobilfunkgeräts nicht störte. Nun schafft Apple Abhilfe. Ein neuer Patentantrag verrät, dass das nächste iPhone den Tagesablauf seines Nutzers aufzeichnen könnte, dessen Telefonierusancen oder Standorte, die Ladezeiten, um den künftigen Verbrauch zu errechnen. So sollen Verhaltensmuster erfasst werden, auf dass der nötige Energiebedarf zuverlässig im passenden Augenblick bereit steht. Wenn du einen Freund suchst, kauf dir ein Smartphone. Dessen nächste Generation ist das Carephone. Honi soit qui mal y pense.

Was Europa ist

Eine boshafte Prophetie des Kabarettisten Georg Kreisler, der kein Prophet sein wollte. Auch wenn die Welt in der politischen Sommerpause am Strand liegt, machen die Probleme keinen Urlaub. Das Lied über den Euro ist veröffentlicht worden im Jahr 1996.