Charity

Das gute Gewissen ist eine Erfindung jener, die nicht mehr wissen können, dass ein Gewissen als moralische Instanz nur fühlbar ist, wenn etwas schiefzulaufen droht oder gar daneben gegangen ist. Auffällig wird diese besonders empfindsame Art des Bewusstseins stets nur als schlechtes. Wer ein reines Gewissen hat, ist zwar nicht gewissenlos, aber kann sich gewiss sein, dass er von dessen Einreden frei bleibt. Er spürt es nicht. Als vielleicht letzter Zeuge dieser über Jahrhunderte selbstverständlichen Unterscheidung mag ein Werbeclip gelten, der Anfang der siebziger Jahre abends den deutschen Haushalten die Vorteile eines Weichspülers empfahl. Zu Anfang des Films spricht die sonor mahnende Stimme aus dem Off: „Jetzt meldet sich ihr Gewissen.“ Die Hausfrau hatte versäumt, in den Spülgang einen Becher des Wundermittels zu kippen. Der Begriff „Gewissen“ stand selbstverständlich für das schlechte, augenfällig in der schattenhaften Verdoppelung der Figur, die fürsorglich Fehler aufzeigt. Dabei allerdings konnte es nicht bleiben in einer Zeit, die sich mit großem Tamtam von überkommenen Wertmaßstäben studentenbewegt zu lösen begonnen hatte und mit diesem Ruf nach Tabufreiheit moralischen Autoritäten aller Art den Garaus zu machen bereit war. Im betulichen Gestus der Fernsehreklame von damals wird nun also das gute Gewissen eingeführt, das am Ende belohnt mit der schönsten aller Versicherungen: „Alle haben dich so lieb.“ Die Welt ist in Ordnung, so lang es sich in ihr auf weichgespülter Wäsche kuscheln lässt. An die Stelle des schlechten Gewissens

ist die schärfste aller Drohungen getreten, die eine durchanalysierte Gesellschaft kennt: der Anerkennungsverlust. Mit Ächtung wird bedacht, wer sich den Erwartungen der anderen zuwider aufführt. Das schlechte Gewissen ist aus dem Inneren ausgewandert in die soziale Welt (woher es dem Modell der Psychoanalyse zufolge ohnehin stammt) und kehrt wieder als negative Folie jener stets wirkenden Erleichterung, den Liebesentzug gerade noch vermieden zu haben. Das gute Gewissen ist keine Qualität der Moral mehr. Es funktioniert über die Gewähr von Zugehörigkeit zu gesellschaftlichen Kreisen, die es in Form eines modernen Ablasshandels lebendig halten: Geld gegen das Gefühl, die Welt wieder ein Stück kuscheliger gestaltet zu haben. Der Ablassbrief von heute ist die Spendenquittung nach dem Besuch einer Charity-Veranstaltung. Danach muss man sich über die eigenen Wertvorstellungen keine Sorgen oder gar Gedanken mehr machen.