Fastenzauber

„Eigentlich habe ich gar keinen Hunger“, flüstert sie. Das Pärchen hat sich gerade erst zu Tisch gesetzt. Der Patron des Hauses ist mit der Speisekarte gekommen und listet die Tagesempfehlungen auf: gebratenes Milchzicklein, die obligatorische Seezunge, die in keiner Restaurantküche fehlt, weil dieser Fisch seine Beliebtheit der Tatsache verdankt, dass er nicht wie Fisch schmeckt, ein schön marmoriertes Stück vom Black Angus – „schade, wenn ich es unter zweihundert Gramm abschneiden müsste“. Mit diesem Überblick und Ausblick werden die beiden für einen Moment der Entscheidung allein gelassen.
„Ich muss dir was erzählen“, sagt sie, um die Wahl hinauszuzögern. Sie kann sich immer so schlecht für ein Gericht begeistern, wenn der Bauch voll ist. Und wenn er leer ist, fällt es ihr noch schwerer. „Gestern Abend war ich eingeladen im Varieté. Auf der Bühne ein Künstler, der sich darüber mokierte, dass das Alphabet aus genau sechsundzwanzig Buchstaben besteht. Was denn wäre, wenn einer ausfällt?“
„Und?“
„Nun, er sprach einfach weiter, aber ohne den einen Vokal. Es klang komisch, aber alles war verständlich.“
„Was ist daran so witzig?“ fragt er.
Sie fährt fort: „Dann ließ er den zweiten Buchstaben weg und redete wie ein Wasserfall. Es war immer noch, mit ein bisschen Konzentration, zu hören, was er meinte. Und man musste lachen über die erkennbaren Stolperstellen.“
„Hm“, wirft er nur ein. Seinen Entschluss für die Hauptspeise will er nun alsbald loswerden; der Magen knurrt.
„Dann ließ er das dritte Zeichen im Alphabet weg. Du konntest dich vor Vergnügen kaum halten, so verdreht waren die Sätze.“
„Welche Buchstaben hat er denn weggenommen?“
„Das e, das n und das s.“
„Dann kann man Entscheidendes schon gar nicht mehr sagen“, meint er.
„Was denn zum Beispiel?“
„Na, Essen.“
„Ich wusste, dass ich gar keinen Hunger habe.“