Im Westen nichts Neues

Wenn der Unterschied zwischen Wahrem und Falschem nicht mehr beachtet wird, bleibt immer noch die Differenz zwischen Wahrheit und Lüge zunächst erhalten. Die Lüge ist die gesteigerte Missachtung von Wirklichkeit als Abkehr von ihr wider besseren Wissens. Es ist wichtig zu verstehen, wo etwas nur schlecht gedacht ist, anderes hingegen böswillig gesagt. Im Reich der Worte kämpfen Philosophie und Rhetorik, zuletzt deren Abart in unverhohlener Propaganda um eine angemessene Sicht auf die Welt. Erst wenn auch die matte, zweckentfremdete Redekunst an ihr Ende gekommen ist, den wohlinszenierten Beteuerungen kein Glauben mehr geschenkt wirkt, droht Gewalt. Die ist der rohe Versuch, die Perspektive des Gegners auf die Sache zu verschieben, indem man dessen Standpunkt real (körperlich, geographisch) verrückt, wo zuvor nicht gelungen war, die Sicht ideal zu verändern. Jede Lüge ist ein Test auf die Gewaltbereitschaft des anderen. Als Erich Maria Remarque in seinem Roman über den Wahnsinn des Ersten Weltkriegs die Grenze der Sprache markiert, bevor sie an der Brutalität des Weltgeschehens zu scheitern droht, formuliert er einen Satz, der in seiner Hilflosigkeit zugleich das ganze Vermögen zeigt, zu dem unsere Fähigkeit zu reden und zu schreiben sich immer wieder aufzuschwingen in der Lage ist: „Worte, Worte, aber sie umfassen das Grauen der Welt.“*

Erich Maria Remarque, Im Westen nichts Neues, 96