Kapitalverbrechen

Ob es an seiner knapp gemessenen Lebenszeit lag – John Keats, der britische Poet, wurde nur fünfundzwanzig Jahre alt; er starb 1821 –, dass er ein feines Gespür besaß für vertane Tage? An seinen Bruder George und dessen Frau Georgiana schrieb er im Mai 1819. „Was für ein Unterschied zwischen behaglichem und unbehaglichem Nichtstun! Einen müßigen Tag, selbst wenn er mit unerfreulichen Gedanken ausgefüllt ist, kann man, wenn man allein ist, aushalten und sogar angenehm finden, und die Erfahrung hat uns gelehrt, daß Ortswechsel noch keine Veränderung ist. Aber nichts zu tun zu haben und umgeben sein von unangenehmen Wesenheiten, die einen grade bedrücken, daß sie einen von ungestörter Muße abhalten – jedoch nicht so, um einen zu interessieren und anzuregen, das ist eine Kapitalstrafe für ein Kapitalverbrechen. Denn ist es nicht ein Kapitalverbrechen, wenn man seine Zeit für Leute opfert, die weder Licht noch Schatten haben?“ Der Dichter erzählte im Brief von einer Einladung zum Lunch, die er besser wohl ausgeschlagen gehabt hätte. Aus manchen wohlgemeinten Begegnungen kehrt man nach Hause zurück, als habe man sich mit einer lähmenden Krankheit infiziert. Denn das Nichts dehnte sich auch auf den folgenden Tag aus: „Ich weiß nicht, was ich Montag machte  – nichts – nichts – nichts – ach wäre das doch etwas Besonderes!“* Das ist der wesentliche Unterschied zwischen Muße und Müßiggang, dass die Muße jederzeit beendet werden kann, wohingegen man sich vom Müßiggang und seiner Langeweile nur unter Anstrengungen zu befreien vermag.

* John Keats, Gedichte und Briefe, 337