Wortkunst

Was ist Rhetorik? Die Fähigkeit, großen Einfluss auszuüben, ohne auch nur einmal handeln zu müssen.

Schöne Einzelheiten

Das unterscheidet den Künstler vom Kunsthandwerker, den Poeten vom selbstreimenden Empfindungsprotokollanten, den Schriftsteller vom Gelegenheitsliteraten, den Stararchitekten vom dilettierenden Bauherrn, den Profi vom Amateur: dass dieser zwar schöne Einzelheiten hervorbringen kann, aber nie ein schönes Werk schafft. Ihm fehlt die Kraft zum Anspruch, eine ganze Welt zu verändern, auch wenn er ein feines Talent zur Nachahmung besitzt. Dieser findet, jener erfindet.

Freut euch

Zur Freude aufgefordert zu werden, ist abwegig und absurd. Sie ist immer spontan, kommt aus sich selbst. Freut euch! Der vorweihnachtliche Appell ans Gemüt, der am vierten Advent nicht nur in den Liedern zu hören ist und der eine neue Einstellung zum Leben einfordert, klingt schal und anmaßend in einer Welt, die an sich selbst oft genug wenig Anlass sieht zur Ausgelassenheit. Der dänische Denker Søren Kierkegaard hat wie kaum ein anderer über die Freude reflektiert und sie übersetzt als Aufgabe, die dem Zuspruch, der wie ein Imperativ klingt: Freut euch!, eine pragmatische Wendung gibt. Sich freuen heißt, sich nicht sorgen. Weglassen, was Zukunft verbaut, weil sie besetzt wird von Angst und der Gegenwart die Lebendigkeit raubt. Und hier sein, jetzt sein. „Was ist Freude, was ist fröhlich sein? Es ist, dass man in Wahrheit sich selbst gegenwärtig ist … Die Freude ist die Zeit, die eben jetzt ist.“*

* Kleine Schriften 1848 / 49, Gesammelte Werke, 21., 22. und 23. Abteilung, 67

Überstürzt

Der Vorteil des überstürzten Aufbruchs, rasch und ohne großen Trennungsschmerz eine Lebensphase beendet zu haben, währt oft nur kurz, weil in Momenten inszenierter Kopflosigkeit allzu viel von sich selbst zurückgelassen wird. Wie der naive, unvorbereitete Anfang die größte Kraft besitzt, schwächt das spontane Ende umgekehrt nicht selten dessen Radikalität durchs Vergessen oder Verdrängen. Dem Beginnen steht ein Gran Irrationalität gut zu Gesicht; dem Abschied ist förderlich, klug und klar überlegt zu sein.

Der Gang des Gesprächs

Ein Gespräch, das mir nachgeht, besteht aus lauter Worten, die mich angehen.

Anders sein (können)

Freiheit ist der Name für eine Idee, die zu erklären sucht, warum ich anders bin als andere. In der Erfahrung individueller Differenz stellt sich aber eine Aufgabe: aus dem Freisein, das jeder für sich in Anspruch nimmt, eine Vorstellung zu entwickeln, der viele nicht nur freiwillig folgen, sondern die so stark ist, dass sie die Grenze zu bestimmen vermag zwischen dem, was abschätzig Willkür heißt, und der Fähigkeit, jederzeit neu anfangen zu können.

Zwiespalt

Zur Melancholie gehört wesentlich der Zwiespalt zu fürchten, sich in ihr zu verlieren, und zu fürchten, mit ihrem Verlust auch sich zu verlieren.

Ex

Die lapidare Kennzeichnung des einstigen Lebenspartners als Ex spiegelt in ihrer kühlen Knappheit noch den vormaligen Wunsch wieder, ihn möglichst schnell und geräuschfrei loswerden zu wollen. Der Ex-Mann ist der X-Mann, ausgeixt, durchgestrichen, getilgt aus der eigenen Geschichte. Schöner, vor allem ehrlicher ist die Rede, die vom früheren, vom ehemaligen Gefährten spricht. Der Radikalität des Trennungsentschlusses entspricht hier das implizite Eingeständnis, auch dann noch miteinander etwas zu teilen, wenn man nichts mehr gemeinsam hat. Auch ohne das Erlebnis des anderen bleiben doch viele Erfahrungen, die gelegentlich sogar zu lebensklugen Erkenntnissen über Zweisamkeit ausgereift sind.

In einer anderen Liga

Nichts macht so einsam wie dauerhafte Überlegenheit. Das ist der Preis für ein Erfolgsabonnement: dass man mit anderen keine gemeinsame Welt mehr teilt. Sie nützt niemandem.

Lass uns alsbald wieder sehen

Der blödeste Gedanke, der sich nach einem langen Abend voll heiterer Gespräche mit Freunden, exzellentem Wein und schönsten selbstgeschmorten Grüßen aus der schmalen Wohnküche leider allzu oft einstellt, ist, ihn rasch wiederholen zu wollen. Nichts ist ehrlicher als der Abschiedswunsch: Lass uns alsbald wiedersehen. Und niemand ist in dem Moment schlechter beraten als der Besucher mit dieser gutgesinnten Absicht. Kluge Gastgeber überhören taktvoll jedes an der Türschwelle spontan in die letzte Umarmung hineingesprochene Bedürfnis nach einem schnellen Treffen. Ja, sie geben mit auf den Weg, die Gegeneinladung so lang hinauszuzögern, bis man einander abermals ausreichend Überraschendes zu erzählen hat.

Kontext

Die meisten unserer Sätze sind provisorisch. Sie können nicht allein stehen, für sich einstehen. Reißt man sie aber aus dem Kontext, indem man sie zitiert und stellt sie aus, erhalten sie einen Zug von Endgültigkeit, der ihnen oft gar nicht einmal schlecht bekommt. Das, was dereinst Autoritätsargument hieß, die Erwähnung eines fremden Gedankens, dessen Autor sich allgemein Anerkennung verdient hatte, erreicht man heute weniger durch name dropping denn durch eine Täuschung: Aus dem Zusammenhang genommen, wird das künstlich erzielte Ahistorische eines Satzes verwechselt mit dessen Verbindlichkeit.

Der große Kommunikator

Man muss kein großer Kommunikator sein, kein gewiefter Sprachtaktiker, kein rhetorisches Talent, um Menschen zu erreichen, sie im besten Sinn zu führen. Es genügt die Fähigkeit, sich in sie versetzen zu können, für den Augenblick, der situativen Reaktion wegen, aber auch generell, um zu wissen, was einer braucht. Wenn dieses Gespür allerdings fehlt, dann kann man noch so tief in die Kiste der Redetricks greifen, es änderte nichts: Die Worte wirkten hohl und grob. Kommunikation ist vor allem Menschenkenntnis. Für die gilt das Geheimnis des hermeneutischen Zirkels: Man muss Menschen immer schon gekannt haben, um sie kennenlernen zu können.

Das Dreiecksverhältnis der Intimität

Im Dreiecksverhältnis von Wahrnehmen, Erkennen und Durchschauen spielt sich ab, was wir Intimität nennen. Den anderen wahrzunehmen (immer als Minimalform der Wertschätzung verstanden), ist zwar gemeinhin der Einstieg in eine Beziehung; mit deren Aufnahme aber gerät es nicht selten in den Hintergrund, aus dem es eingefordert werden muss. Erkennen hingegen, (das im hebräischen Verb ידע sowohl die Vereinigung von Menschen, die Hochform der Liebe, wie den Gewinn von Klarheit bezeichnet), erreicht diesen Status nur, wenn man es nicht verwechselt mit dem, was wir zu durchschauen meinen. Vertrautheit entsteht, wenn das Sehen eine Vollkommenheit erreicht, die nicht total ist, und schon deswegen nicht totalitär wirkt. Menschen heißen Personen, weil sie sich gerade nicht vollständig fassen lassen.

Ausgemessene Enttäuschung

Zwischen dem, was man sich verspricht von einem, und dem, was er selber versprochen hat, liegt der Raum möglicher Enttäuschung. Manchmal lässt sich schon an der Differenz von Erwartung und der feierlichen Erklärung (wie sie heute anlässlich der Kanzlerwahl gegeben wird) bemessen, was man zu erwarten hat. Politik ist die Kunst des Möglichen mindestens so, dass sie mögliche Ernüchterungen sich nicht verdichten lässt in gesellschaftlichem Unfrieden.

Krass

Im Sport ist die Selbstbezeichnung einer Mannschaft, „krasser Außenseiter“ zu sein, die verschleierte Kampfansage, dem Gegner das Leben schwer zu machen. Es sind, so die stillschweigende Annahme, nicht die schlechtesten Voraussetzungen zu siegen, wenn man glaubt, nicht mehr viel zu verlieren zu haben. Innerhalb einer Mannschaft kommen die „krassen Außenseiter“ hingegen eher selten vor. Sie werden gemieden, weil man vermutet, sie könnten den Erfolg vereiteln, indem sie das Gefüge in einem Team sprengen. Dabei gilt auch hier, dass sich Stärke auszeichnet in der Fähigkeit, Ungewöhnliches und Befremdliches so aufzunehmen und zu integrieren, dass es nicht als „krass“ wahrgenommen werden muss. „Krasse Außenseiter“ sind keine Garantie auf den Gewinn, aber die lebendige Anschauung, dass es nicht lohnt, Niederlagen zu fürchten.

Der Nahetreter

Da ist einer ernsthaft beleidigt, weil sein Gesprächspartner die Geste des Mitgefühls achtlos beiseite wischt, als sei sie nichts wert. Er ist gekränkt, dabei handelt es sich nur um die angemessene Strafe für den so tolpatschigen wie taktlosen Versuch, in eine verletzte Seele einzudringen, deren fragiler Zustand ihn nichts angeht. Mitleid, als diskrete Tugend, zeigt sich nicht zuletzt auch im eigenen Leid, nicht immer mitteilen zu können, was man für den Getroffenen empfindet.

Nicht für jeden bestimmt

Jede Veröffentlichung macht das Schreiben zwar genauer, aber auch ärmer.

Die Ein-Thema-Welt

Je weniger Gegenstände das Reden bestimmen, desto größer ist das Potential zum Konflikt. In einer Ein-Thema-Welt, die seit zwei Jahren fast nur noch den verzehrenden Kampf gegen die Ansteckungsgefahr kennt, ist die Spaltung der Menschen als erbitterter Streit über die Sache unmittelbar angelegt. Man muss Stellung beziehen; die Ausweichgelegenheiten sind verbaut.

Gesprächsrausch

Das ideale Interview: der eine stellt die Fragen so, dass der andere danach lechzt, wieder und wieder antworten zu dürfen, weil er sich an seinen eigenen Gedanken berauscht, die er nicht hätte, wenn sie ihm nicht im Gespräch entlockt worden wären.

Existentialistisch

In jedem menschlichen Sein bricht das Freisein hervor.
Jedes Haben bedeutet auch Angst haben.
Leben heißt, sich zu übernehmen, indem man Verantwortung übernimmt.

Ich weiß, was ich will

Jedes „Ich will“, das sich entschlossen herausgearbeitet hat aus vielerlei Verlockungen des Wünschens und manchen Bedingungen des Vermögens kennt sein Risiko, ohne das es nicht zu artikulieren ist: zu scheitern am Nicht-Können, am Nicht-Sollen. Der Anspruch ist so stark, weil er um die vielen Hindernisse weiß, die ihn hindern wollen, sich durchzusetzen. Wollen ist Überwinden.

Aufgelöst

Das Ideal der Bildgebung, mit hochauflösenden Verfahren eine Überfülle an Details darzustellen, zeigt den Konflikt zwischen Tiefe und Totalität. Je genauer eine Sache zu sehen ist, desto mehr Verschwimmen die Vorstellungen von ihrer Ganzheit, bis sich in der höchsten Auflösung des Sichtbaren das aufgelöst hat, was zu sehen war. Ist es mit Problemen ähnlich: man muss sie nur bis in die letzten Feinheiten durchdenken, um sie zum Verschwinden zu bringen?

Solange geredet wird …

Die wichtigste Aufgabe in der Erziehung ist, Menschen in ihrer Sprachfähigkeit zu entwickeln. Weit mehr, als gleich eine Fremdsprache zu lehren, bedeutet das, jenes Ausdruckstalent zu fördern, das noch in schwierigsten Situationen nicht verstummen muss. Solange geredet werden kann, lassen sich Gewaltspiralen vermeiden. Der Unterschied zwischen Wut und Zorn zeigt sich vor allem darin, dass dieser sich in Worten artikulieren kann, wohingegen jener sich aufs Schreien reduziert.

Entgegenkommen

Zum Beginn des Advents: 
Das Wort „Entgegenkommen“ hat in seiner abgeschwächten Fassung die Bedeutung, eine hartnäckig vorgetragene Forderung, einen Daueranspruch wenigstens so weit anzuerkennen, dass man ihn nicht ins Leere laufen lässt. Na ja, meint es dann, man will nicht so sein und erfüllt einen kleinen Teil der nervigen Erwartungen. Entgegenkommen im starken Sinn ist indes jene antizipierende Geste, die dem Gegenüber alles erleichtert und einen Gast und Kollegen, ein Kind oder einen Bittsteller gar nicht erst in peinliche Nöte bringt. Wenn nun im Advent von der Ankunft des Weltenerlösers die Rede ist, dann in dieser vollen Version: Gottes Kommen ist dem Menschen stets ein Entgegenkommen, das jedem Zweifel über Angemessenheit zuvorkommt, weil es ihn nichts als willkommen heißt. Aus dem „Na, ja“ wird ein uneingeschränktes „Ja“.