Nichts zuvor, nichts danach

Erste Sätze sind nicht erste Sätze, weil sie am Anfang stehen. Sie könnten einen Text auch abschließen. Solche Worte haben die Eigenschaft, dass sie nach einer Seite hin gewissermaßen geschlossen sind, was sie nach der anderen Seite besonders öffnet. So kommt ein guter Anfangssatz daher, als hätte es nichts zuvor zu sagen gegeben, müsste aber nachfolgend alles umso klarer entwickelt werden. Als Schlusspointe eingesetzt markiert er das Ausrufezeichen, das er selber nicht enthält und beendet so den Gedanken, der sich fortan allenfalls im Leserkopf weiterführen lässt. Erste Sätze und finale Worte geben sich den Anschein, als seien sie singulär, obwohl sie alles andere zu sein beabsichtigen: Initiator und Repräsentant all der übrigen Ideen.

Lebensmotto

Nicht jeder hat eines: ein Lebensmotto, den Satz, der aufrichtet und trägt, antreibt oder ausrichtet. Solche Maximen werden gern ermittelt, vor allem in einschlägigen Fragebögen. Doch Vorsicht vor allzu schneller Preisgabe. Es gehört zum Geheimnis von Leitworten, dass sie besonders kraftvoll wirken, wenn sie nicht verraten werden. Und niemand die Probe machen kann, wie stark sie sind.

Schwacher Trost

Es hätte noch viel schlimmer kommen können – das ist die schwächste Aufwertung von allem, was anders gekommen ist, als man dachte. Der Satz ist immer wahr, vor allem weil keiner die Probe aufs Exempel machen will.

Strategie

Strategie ist der Codename für die Selbstverpflichtung, nie zu handeln, ohne vorher eine Sache in ihren unterschiedlichen Aspekten klar durchdacht und fein abgewogen zu haben, zu denen auch jene gravierenden Aktionsfolgen zählen, die nicht unmittelbar abzuleiten sind aus dem geplanten Eingriff. Hierin ist sie fundamental unterschieden von allen taktischen Erörterungen, ja kann gelegentlich sogar als deren Gegenteil erscheinen.

Wo bleibt der Widerspruch?

Jede Äußerung, sofern sie sich ein Urteil erlaubt, eine Behauptung aufstellt, sich positioniert, muss darauf gefasst sein, dass ihr widersprochen wird. Sie bezieht ihre Kraft nicht zuletzt aus der Fähigkeit, solche Einreden vorauszusehen, ja ihnen vorzubauen. Das Beste, was sie so zu leisten vermag, ist die spezifische Antizipation eines Widerstands und dessen Umdefinition als einer Form, wie die eigene Stellungnahme bestätigt wird. Zum Ärgernis wird solcher Kunstgriff spätestens, wenn denen, die ihn einsetzen, dabei unterderhand der Sinn verlorengeht für Realität. Wirklichkeit nämlich hat vor allem eine Eigenschaft, die der Widerspenstigkeit.

Aus Fehlern lernen

Was lässt sich anderes aus Fehlern lernen als dies: dass sich beim Bemühen, die Missgeschicke nicht zu wiederholen, unendlich viele Möglichkeiten ergeben, neue Patzer zu begehen.

Alles nur geträumt

Kanzler oder Kanzlerin wird, nicht wer die klarsten Positionen formuliert oder die schönsten Perspektiven verspricht, sondern wer die größte unbesetzte Projektionsfläche bietet. Das Geschick besteht darin, sich gerade so weit nicht festzulegen, dass es nicht als Meinungsschwäche, Wetterwendigkeit oder Denkfaulheit ausgelegt werden kann. Das Volk soll entscheiden über das eigene Maß der gefälligen Unentschiedenheit.

Das Recht der Anderen

Alle moralischen Gebote lassen sich zurückführen auf die eine Pflicht: den Anderen nicht im Stich zu lassen.

Glückskind

Das Glück schert sich nicht um moralische Korrektheit.

Kunst und Handwerk

Es ist Kunst, wenn Überforderung und Langeweile in ein solches Verhältnis gerückt werden, dass die Erwartung des Unerwarteten zwar nicht erfüllt, aber geweckt wird, wenn das Spiel mit der Überraschung gelingt, das nie nur mit dem gänzlich Unbekannten auftrumpfen darf, sondern es ins Vertraute geschickt einpflegen muss. Schon deswegen kann sich Künstler mit Recht nur der nennen, der sein Handwerk so perfekt beherrscht, dass er es vergessen lässt. Die Kunst kann ohne Handwerk nicht leben, das Handwerk ohne die Kunst bestens.

Kleingedruckt

Alles Kleingedruckte hat vor allem die Aufgabe, dass am Ende der groß auftrumpfen kann, der es sich hat unterschreiben lassen. Es geht um nichts als das Rechthaben. Mit der Klärung dieser Frage ist elegant legitimiert, dass sich einer schadlos aus der Verantwortung stehlen kann.

Bloß nicht zu schnell antworten

Sätze, die man vorhält und sich bereitgestellt hat, um sich in Gesprächen nicht überrumpeln zu lassen, verlieren, wenn sie gefordert sind, in solchen Augenblicken regelmäßig ihre Kraft. Nichts bewirkt größere rhetorische Ödnis als die wörtliche Vorbereitung. Was den Berufserwiderern in Interviews fehlt, ist die Sehnsucht nach Fremdheit. So hat diesen grundlegenden Mangel Michael Köhlmeier genannt, der in seinem Roman „Abendland“ daraus den Imperativ gewinnt: „Such‘ erst nach der Antwort, wenn sich die Frage stellt!“* Alles andere verhindert das Denken.

* Abendland, 724

Professionell

Später Berufswunsch: Gärtner des Glücks.

Gerhard Glück, Kleefeld

Für oder vor

For, die englische Präposition, hat etliche Bedeutungen, eine jedoch nicht: vor. For you, je nach Distanz meint es: für Sie. Da wird es nicht wörtlich genommen, sondern in den Kontext hinein übersetzt. Respect for … lässt sich also nicht buchstäblich übertragen, sondern muss richtigerweise heißen: Respekt vor … So verlangt es die deutsche Grammatik. Dass immer öfter zu hören ist: Ich habe Respekt für … macht die Sache nicht korrekt. Zuletzt verwendete jene Partei, die wie keine andere auf den Kanzlerkandidaten setzt, den Slogan. „Respekt für Dich, Kompetenz für Deutschland“. So erscheint es auf Wahlplakaten und will dem Frontalen, das dem Respekt wesentlich zu eigen ist, durch den Präpositionswechsel die Bedrohlichkeit nehmen. Da holpert aber nicht nur der Sprachgebrauch. Auch die Gedanken sind alles andere als flüssig. Wen achtet die Partei? Den Wähler und seinen Willen? Also „mich“? Das wäre wohl so selbstverständlich, dass es nicht eigens erwähnt zu werden brauchte, schon gar nicht als Werbeclaim. Oder sollte es doch, weil Politik sich zwischen den Wahlen geradezu in der Respektlosigkeit vor dem Ansinnen der Bürger überboten hat? Dann stünde dem Koalitionspartner und Regierungsmitglied eine solche Formel nicht gerade gut zu Gesicht. Was bedeutet sie folglich, wenn sie nicht einfach nur Schlag- und Signalwörter aneinanderreiht? Es könnte der Respekt vor dem Wähler vielleicht doch erst einmal so ausgedrückt sein, dass man Respekt vor der Sprache zeigt, indem man den Gedanken achtet durch Mühe um ihn.

Menschsein

Drei Fragen zur Anthropologie
Was ist der Mensch? Das Tier, das fragen kann:
Wer ist Mensch? Das Wesen, das fragen muss:
Wo ist der Mensch? Das Individuum, dem das immer wieder fraglich wird.

Schattenkandidaten

Welche Art von (Un-)Vernunft setzt sich in nicht wenigen Fällen durch bei Wahlen, die nach dem Mehrheitsprinzip organisiert sind? Man wundert sich, dass allzu oft die Entscheidung zugunsten der erkennbar schlechteren Wahl getroffen wird, trotz der Prognosen und Warnungen, die die eigene Einschätzung nur bestätigen. Warum ist das Offenkundige nicht ausschlaggebend? Oder sorgt erst das hinzugewonnene Amt für jene Beschädigungen, die alle Schattenkandidaten, jene vermutlich intelligenteren Alternativen im Hintergrund, die nicht zum Zuge gekommen sind wie Habeck, Özdemir, Röttgen, Söder, Wagenknecht, plötzlich in die Nähe von Lichtgestalten rücken? Die Erfahrung bestätigt, dass in einer Abstimmung nur das Überdurchschnittliche gegen den unteren Durchschnitt siegt; dieser hingegen in der Konkurrenz mit dem höheren Durchschnitt meist den Vorzug erhält.

Der Teufel im Detail

Im Alltag sind es stets Kleinigkeiten, die Anlass geben zum Ärgernis. Wohingegen Freude erfahren wird, wenn eine Sache im Ganzen stimmig ist. Man mag das Umgekehrte Lebenskunst nennen: sich am Geringen ergötzen, die Strukturfehler im Großen erkennen.

Stiller Raum, stille Zeit

Als sei Stille eine Eigenschaft des Raums, wird sie umso mächtiger erfahren, je größer dieser ist. Das zeichnet die erhabene Präsenz eines Kirchenschiffs aus, in dem niemand sonst verweilt als der zufällige Stadtbesucher, der sich für den Augenblick abgekehrt hat von der Betriebsamkeit der Straße, dass sich die Atmosphäre unter dem Gewölbe wundersam verdichtet zu einem einzigen Gespür, trotz der versuchten Ablenkung durch farbenreiche Altarbilder, dem goldglänzenden Gepränge, dem geschmacklosen Blumenschmuck: dem, dass die Abwesenheit von allem nicht Nichts bedeutet, sondern Alles offenbart.

Alarmismus

Das Anstrengende an der medial dauerpräsenten Aufgeregtheit ist die ihr innewohnende, stillschweigende Aufforderung, wieder und wieder Stellung nehmen zu müssen zu all dem, was gerade als Thema durch die Kanäle gejagt wird. Wer einmal sich der Mühe einer Urteilsfindung unterzogen und der stoischen Urteilsenthaltung für Momente hat Sympathien abgewinnen können, versteht das Stereotype und Reflexhafte in Tweets und Posts, das im Austausch von erwartbaren Provokationen und überraschungsfreien Reaktionen sich zu einem großen Selbstgespräch vorarbeitet. Nur selten findet sich zwischen den vielen Zeilen noch ein Gedanke, dem die Qualität eines begründeten Statements anhaftet. In den allermeisten Fällen zeugen die Beiträge von der spezifischen Erregtheit derer, die übermüdet sind, wie in Abendgesellschaften, die zu lang schon andauern, weil man, obwohl einander nichts Entscheidendes mehr zu sagen ist, den Zeitpunkt für den Abschied versäumt hat und nun zu erschöpft ist, sich zum Aufbruch aufzuraffen. Da schließen sich Zähigkeit und Fiebrigkeit nicht aus.

Doppeltes Tun

Für das eigene Handeln einstehen bedeutet, auch dessen Folgen weitgehend tragen zu wollen. Diese Reduplikation der Aktion hat einen Namen. Sie heißt Verantwortung. Und sie reicht über die Grenze dessen hinaus, was vom eigenen Willen unmittelbar abgedeckt ist. Nicht nur der Entschluss selbst, auch Konsequenzen, die auf ihn mit Fug zurückgeführt werden können, aber nicht unmittelbar intendiert sind, gehören noch in den souveränen Spielraum von Freiheit. Sie ist damit längst nicht beschränkt auf Entscheidungsgründe, auf den unendlichen Horizont von Möglichkeiten, auf die vielen Ausdrucksformen des Wollens. Frei verdient der genannt zu werden, der seinem Tun ein Maximum an Reflexion über dessen Wirkungen beiordnet.

Wettererinnerungen

Das Wetter, in all seinen Schattierungen von stürmisch bis sonnenklar, ist das metaphorische Grundmuster für das, was wir Lebensgefühl nennen. Das nämlich beschreibt, ähnlich der Atmosphäre, die uns umgibt, weit mehr als nur ein Gefühl im Leben. Seine Stimmung nährt sich aus dem Inneren wie dem Außen, ist mehr als nur ein Augenblickshoch, eine plötzliche Laune. Es kann lange Fristen überdauern, sich tief festsetzen in der Erinnerung. Das Lebensgefühl ist jene Emotion, die sich zu einer Dimension eigenen Rechts verobjektiviert hat.

Wir Hypersensiblen

Wenn Verletzungsgefahr zum Maßstab des Redens wird, müssten wir folgerichtig verstummen, weil kein Satz die Garantie abgeben kann, wie er aufgenommen wird. Die Sprache ist lebendig, so lang sie mehr zu sagen hat, als sich ertragen lässt, ja für das Worte findet, das man gerade nicht mehr aushalten kann. Die sicherste Methode, andere zu langweilen, ist, korrekt zu sein. Auch wenn Haltungen nach Ausdrucksformen suchen, ist der Geist stets mehr als die Gestaltungen, die er sich gibt. Es ist geistlos, Wörter mit einem Sprechverbot zu belegen, so wie es taktlos ist, sie zu gebrauchen.

Rettungsphantastisch

Die zeitgenössische Form der Selbstzerstörung: Frevel an der Natur. Die moderne Form der Selbstfindung: Weltrettung. Das Ich hat begriffen: Mit ihm selbst geht es immer ums Ganze.

Von anderen

Ärger noch als der entdeckte Betrug, dessen sich verdächtig macht, wer bei einem Plagiat erwischt wurde, scheint die Unfähigkeit (oder auch nur der Unwille) zu sein, selber zu denken, zu dessen Vermutung Anlass gibt, was sich als abgeschrieben herausstellt. Wie soll von jemandem der Anspruch glaubwürdig erhoben werden, ein ganzes Land erneuern zu wollen, wenn es schon im Kleinsten für nicht mehr gereicht hat, als Anleihen an fremde Ideen zu verschleiern?!