Verzaubert

Durch das geöffnete Fenster im vierten Stock kommen die immer selben Tonfolgen. Ein Passant hat sich ans Piano gesetzt, das seit Wochen an der Ecke in der Fußgängerzone Stadtbesucher anzieht, und klimpert die Melodien des Flohwalzers und der „Elise“. „Wir hören das schon gar nicht mehr“, sagt die Fachangestellte des Zahnarztes, während sie den Abdruck vorbereitet. Dann Pause. Mit einem Mal, als die Tasten wieder angeschlagen werden, verändert sich die Stimmung im Raum. Unten hat sich offenbar ein Virtuose ans Instrument gesetzt, der ihm waghalsige Akkorde und schnellste, perlende Läufe entlockt. Die Arbeit am Kiefer ruht für einen Augenblick, der Patient löst sich vom Behandlungsstuhl und tritt mit denen an den Sims, die ihn eben noch mit feinen Bohrmaschinen gequält haben. In den Nachbarhäusern werden die Fenster geöffnet. Ein Publikum gesellt sich in den Etagen zur wachsenden Menschentraube, die sich auf dem Pflaster bildet. Die City verwandelt sich in ein Konzerthaus. Kein Geschrei, kein Lärm, kein Geschwätz stört den Vortrag des jungen Manns, der nur seiner Improvisation folgt, einer sich aufschaukelnden Demonstration, wie mächtig Klangstücke sind. Wenn Kunst die Kraft hat, Welt zu ändern, dann ist Musik jenes Vermögen, das Widerstände gewaltlos bricht, so dass man sich freiwillig ergibt.