Monat: Oktober 2016

Hast du was zu sagen?

Die akademische Version des gemeinsinnigen Satzes „Leben und leben lassen“ lautet: zitieren und zitiert werden. Wo er einst mit Originalität glänzte oder durch die virtuose Kenntnis der alten Autoritäten, erringt der Wissenschaftler heute seine Bedeutung durch den kollegial vernetzten Gebrauch von Anführungsstrichen: Ich werde erwähnt, weil ich dich in der Sekundärliteratur aufgelistet habe. So gerät alles Ingeniöse in den Verdacht, die Quellen nicht zu kennen.

Vier Elemente

Den klassischen vier Elementen lassen sich Typen zuordnen.
Feuer: die Entflammte, der Verbrannte, die Leuchte, die Heißblütige.
Wasser: der Aalglatte, die Schwimmende, der Nassforsche, die trübe Tasse.
Erde: die Bodenständige, der Tiefgründige, der Trockene und Angestaubte.
Luft: die Flatterhafte, der Luftikus, der Aufbrausende, das Windei.

Das hätte ich auch gekonnt

Kein Paradox: Es gibt eine passive Kreativität. Sie heißt Langeweile und ergeht sich träge im Zwiespalt zwischen der falschen Überzeugung, es stets besser zu wissen, und notorischer Untätigkeit. „Das hätte ich auch gekonnt“, ist ihr Kommentar zur Situation, ohne dass er je Folgen zeitigte. Weil sie sich von nichts überraschen lassen will, scheut sie das Handeln als Hort des Unwägbaren.

Neue Romantik

Aus dem noch ungeschriebenen Roman:

Er war aufgeregt, als sei es das erste Mal. Sie einladen? Ja, aber wohin? Lang überlegte er; ein gedehntes Schweigen entstand, das der Begegnung Ende hätte sein können. Kurz bevor es unerträglich wurde, weil jeder der beiden wusste, dass etwas noch ausgeblieben war, fasste er Mut und presste die Einladung heraus: „Wir könnten uns morgen Abend treffen. Was hältst du davon? Bei mir zum Candle Light-Döner?“ Noch bevor er erschrocken korrigieren konnte, sagte sie lachend: „Fleischliche Genüsse nur zur Nachspeise. Bis morgen, freue mich.“ Und verschwand.

Weise? Weiß nicht!

Folgt man Platons Bestimmung des Philosophen als eines Menschen, der die Weisheit liebt, der mit ihr befreundet ist* – aber sie nie sein Eigen nennen kann –, so ist das Interessante an dieser zurückhaltenden Definition die Einsicht, dass die Liebe zu einer Sache ihr das Maß schenkt. Nicht das Studium der Bücher, aber die Liebe zum Lesen macht klug; nicht der Fußball, aber die Liebe des Spielers zu seinem Sport fasziniert; nicht deren zentrifugale Kraft, aber die Liebe zur Stadt befreit.

* Platon, Phaidros 278d: „Jemand einen Weisen zu nennen, o Phaidros, dünkt mich etwas Großes zu sein, und Gott allein zu gebühren; aber einen Freund der Weisheit oder dergleichen etwas möchte ihm selbst angemessener sein, und auch an sich schicklicher.“

Woanders

Warum gibt es nicht, der Unzeit gleich, zu der mancher unzweifelhaft ein Talent hat zu erscheinen, den Unraum? Es wäre der Ort der Verirrten, derer, die zu früh gekommen sind oder zu lang geblieben, der geistig Abwesenden, der Sehnsüchtigen: Sie alle halten sich woanders auf.

Liebe und Freundschaft

Zum romantischen Bild von Liebe gehört der Wunsch, man könne mit dem Partner auch befreundet sein. In der Realität ist das schwierig. Da verkümmert das Ideal allzu oft zur Illusion. Denn der Rigorismus einer Freundschaft lässt sich von der Absolutheit einer Liebe nicht übertrumpfen. Wo hier ein striktes Entweder-Oder gilt, Freund oder nicht (es muss der andere sich ja nicht gleich als Feind entpuppen), heißt es dort zwar ähnlich: diese oder keine (was sich über die Zeit in andere Beziehungsweisen verwandeln kann: diese und die eine; diese nicht mehr, aber die andere; dies und das; keine Bestimmte). Die Freundschaft lebt aber von der Klarheit ihrer Form – es gibt Jugendfreundschaften, Geschäftsfreundschaften, Brieffreundschaften. Die Liebe hingegen verklärt die Eindeutigkeit ihres Inhalts – um dessentwillen sie zu vielen Kompromissen in der Form bereit ist.

Spieglein, Spieglein auf Papier

Man kann sich mit Sätzen gut unterhalten, die man selber geschrieben hat. Sie brauchen, ja vertragen kein Lesepublikum, weil sie sich in der Diskretion eines Gesprächs gestört fühlten, das sie mit dem Autor führen.

Psychologie der Logik

Unter psychologischem Blickwinkel betrachtet ist die Logik das Asyl, in das flüchtet, wer durch sein Leben überanstrengt wird. In der Logik herrscht eine erholsame Genauigkeit und Bestimmtheit, eine Klarheit und Differenziertheit, die die Unwägbarkeiten einer lebendigen Existenz nicht bieten kann.

Ja, ja, gewiss

Weil sich etwas bewegt, und wir nicht nachkommen, verlieren wir Gewissheiten. Und bleiben irritiert stehen. Nicht selten gewinnen wir Gewissheit aber dadurch, dass wir in Bewegung bleiben. Wir denken, erst handeln zu können, wenn wir in einer Sache sicher sind. Warum nicht umgekehrt: Handeln, auf dass wir wieder Festigkeit erlangen.

Schlechter Verlierer

Jeder, dem es ernst damit ist zu gewinnen, ist ein schlechter Verlierer, wenn er den Sieg verpasst hat. Schlechte Verlierer sind Menschen, denen es schlecht geht, wenn sie verlieren. Niederlagen müssen schmerzen, sonst sind sie keine. Dennoch lässt sich aus ihnen Gewinn ziehen. Denn nichts hilft besser wider eingefahrene Muster und feste Gewissheiten als der Misserfolg in einer Sache, die man bestens beherrscht. Er ist so wichtig wie das Glücken für das Selbstbewusstsein.

Weißt du noch?

Sätze aus der Addition gewonnen:

Sentimentalität = Rührung + Erinnerung.
Nostalgie = Erinnerung + Sehnsucht.
Romantik = Sehnsucht + Geschichte.

Ton angeben

Die Musikgeschichte in dreizehn Zeilen:

Why Cage is just like Bach

Bach – Is Bach
Handel – A more religious Bach
Mozart – A cuter younger Handel
Beethoven – An angsty Mozart
Chopin – A less angsty Beethoven
Tchaikovsky – Chopin plus Orchestra
Debussy – A relaxed Tchaikovsky
Ravel – Debussy plus Jazz
Gershwin – Ravel plus even more jazz
Joplin – Gershwin plus more America
Stravinsky – Joplin plus atonal
Ives – Stravinsky plus more messed up music
Cage – Ives minus the music*

* aus: soyouwanttoplaythepiano.tumblr.com

Beistand für den Anstand

Moderne Gesellschaften sind lebendig in dem Maße, wie es ihnen gelungen ist, dem Anstand die Macht zu nehmen, auf dass die Macht anständig werden konnte. Nur das versetzt sie in die Lage nicht in derselben Art zu antworten, wie sie von Niederträchtigkeit, Verlogenheit, Hass und Gewalt herausgefordert wird. Eine Moral, die politisch geworden ist, handelt nicht selten unmoralisch; eine Politik, die moralisch wirkt, kann es, wenn sie es nicht muss.

Der blinde Fleck

„Ist mein Verständnis nur Blindheit gegen mein eigenes Unverständnis? Oft scheint es mir so.“ (Ludwig Wittgenstein, Über Gewissheit, Nr. 418)
Verdeckt meine Zuneigung nur meine generelle Abneigung? Lenkt meine Ehrlichkeit nur ab von meinen notorischen Lügen? Übertönt meine Beredsamkeit nur meine abgrundtiefe Verlegenheit? Haben meine Fragen nur den Sinn, meinen Hang zu übertünchen, auf alles eine Antwort zu geben? Verbirgt mein Zweifel nur meine generelle Gutgläubigkeit? Ist mein Dröhnen nur die Außenseite einer lautstarken Sehnsucht nach Stille? Und die leichtsinnige Geselligkeit enthält den strikten Wunsch nach Einsamkeit?

Lebenskunst, künstliches Leben 

Träume sind Erinnerungen des ungelebten Lebens an sich selbst. 

Wir haben es hinter uns

Das postheroische, postfaktische und postdemokratische Zeitalter ist von Menschen ausgerufen worden, die im Umfeld, in den Umständen oder der Umwelt jenen Ort gefunden haben, an dem sie ihre Verantwortung folgenlos abstreifen können.

Epidemie der Heiterkeit

Zur Freude, die man selber empfindet, gehört das Gefühl, dass die ganze Welt mitlacht.

So geht’s

Mit dem Imperativ hat der Aphorismus die Vorliebe zur Kürze gemein. Fragt sich, ob die Formverwandtschaft nicht auch eine inhaltliche Nähe anzeigt. Danach wäre das knappe Bonmot ein versteckter Befehl. „So sollst du denken oder handeln!“ ist die unausgesprochene Aufforderung eines jeden Sinnspruchs, ohne dass man ihn gleich für Lebensweisheit halten muss.

Bewegungsabläufe

Unter den körperlichen Abläufen ist gewiss die Bewegung der Sprache am nächsten. Beide, das Reden wie die Regung, die Kommunikation wie die Kinetik, entstammen der Verlegenheit, nicht alles auf einmal haben zu können, nicht überall zugleich sein zu können. Gäbe es ein letztes Wort, wären wir nie ins Sprechen gekommen; gäbe es für uns einen festgelegten Ort, hätten wir nicht laufen gelernt.

Glück und Unglück

Nicht selten beginnt das Unglück in dem Augenblick, in dem sich unsere Sehnsucht nach Glück erfüllt.

Achselzucken oder Nervenzucken

Im bekanntesten Gedicht von Erich Fried, dem liebeslyrischen Stück „Was es ist“, enden die Strophen jedesmal mit einem Ausdruck der Resignation: „Es ist, was es ist …“ Der Erklärer wird in eine logische Tautologie gewiesen; jeder Versuch, die Liebe auf den Begriff zu bringen, scheitert an der Vielzahl ihrer Geschichten. Was dem Denker ein Ort des unverständigen Achselzuckens ist, wird der Liebende hingegen als eine Formel verstehen, in der er deutlich mehr sieht als nur die Wiederholung, Verdoppelung eines sinnfreien Satzes. Die Tautologie ist ihm das Versprechen des Einzigartigen, das jeden Sprachversuch entlarvt als Zerstörung des Besonderen durch Verallgemeinerung.

Kann Religion anspruchslos sein?

Erlösung: ein so vergessenes wie verwegenes Wort. Es bezeichnet jene Art der Ansprache, die ohne den Anspruch an andere auskommt, weil mit ihr alles gegeben ist, das zu erfüllen kaum möglich gewesen wäre.*

* Eine der klügsten Bemerkungen zur „Erlösung“ findet sich bei Robert Musil: „So viele Worte in einer großen Stadt in jedem Augenblick gesprochen werden, um die persönlichen Wünsche ihrer Bewohner auszudrücken, eines ist niemals darunter: das Wort »erlösen«. Man darf annehmen, daß alle anderen, die leidenschaftlichsten Worte und die Ausdrücke verwickeltster, ja sogar deutlich als Ausnahme gekennzeichneter Beziehungen, in vielen Duplikaten gleichzeitig geschrien und geflüstert werden, zum Beispiel »Sie sind der größte Gauner, der mir je untergekommen ist« oder »So ergreifend schön wie Sie ist keine zweite Frau«; so daß sich diese höchstpersönlichen Erlebnisse geradezu durch schöne statistische Kurven in ihrer Massenverteilung über die ganze Stadt darstellen ließen. Niemals aber sagt ein lebendiger Mensch zu einem anderen »Du kannst mich erlösen!« oder »Sei mein Erlöser!« Man kann ihn an einen Baum binden und hungern lassen; man kann ihn nach monatelangem vergeblichem Werben zusammen mit seiner Geliebten auf einer unbewohnten Insel aussetzen; man kann ihn Wechsel fälschen und einen Retter finden lassen: alle Worte der Welt werden sich in seinem Mund überstürzen, aber bestimmt wird er nicht, solange er wahrhaft bewegt ist, erlösen, Erlöser oder Erlösung sagen, obgleich sprachlich gar nichts dagegen einzuwenden wäre.“ – Der Mann ohne Eigenschaften, 517f.

Fakten, Fakten, Fakten

Realismus, moralisch betrachtet: der schmale Grat zwischen Gutmütigkeit und Böswilligkeit.