Monat: Februar 2021

Zu akademisch

Das Akademische als abschätziger Titel, als Schimpfwort der Pragmatiker, dieser artikulierte Unmut über allzu hochfahrende, alltagsferne Reflexionen hat sein Recht in der mit ihm verbundenen Erinnerung an eine tiefgreifende Störung der Lebenswelt. Jede Theorie lässt sich erklären als lang währende Rache, die sich einer ausdenkt, dem das Selbstverständliche gestohlen wurde. Nicht um es wiederzuerlangen, sondern um allen anderen zu zeigen, wie dumm sie sind, wenn sie meinen, ihnen sei das noch nicht passiert.

Das Haltbarkeitsdatum von Haltungen

Wie stark eine Meinung, wie ernsthaft eine Überzeugung, wie tief eine Einstellung ist, kurz: ob sie als Haltung taugt, das zeigt sich erst, wenn sie sich gegen die Mehrheit stellen muss.

Zur Sache

Man löst große Krisen, auch die persönlichen, immer nur sachlich. Nichts stört den Erfolg in Wendezeiten so wirksam wie Eitelkeit, Rechtfertigungsbedürfnis und Rechthaberei, Empfindlichkeiten oder Angst um das eigene Ansehen. Es ist ein gut beleumundetes Gesetz: Je nüchterner Schwierigkeiten angegangen werden, desto unbelasteter ist die Darstellung des Charakters nach deren Überwindung. Man zahlt nicht mit dem Persönlichen für das Sachliche; im Gegenteil: der Preis für den Zugewinn an Sachlichkeit ist, dass die Persönlichkeit gewinnt.

Viele Lieben, ein Leben

Als Anspruch an den einen Anderen kann die Absolutheit der Liebe nur ihr Unglück bedeuten. Als Erfahrung mit der einen Anderen kann das Glück der Liebe nur ihre Absolutheit fordern. Das Ärgernis des Plurals, dass die vielen, die es gibt und gegeben hat, die eine, nach der ewig gesucht wird, nie vorstellen, kann das Angebot des Plurals nicht trüben, dass der eine, der einst ausgewählt wurde und am Ende doch nie genügt, jederzeit zu ersetzen ist.

Ganz pragmatisch

Nicht selten entstehen große Antworten, wenn man sich die großen Fragen gar nicht erst stellt. Eine Politik ist, nicht nur in Krisenzeiten, erfolgreich in dem Maße, wie sie ihre natürliche Verwandtschaft zum schlichten Pragmatismus nicht hinter Parteilichkeit und Programmatik schamhaft verbirgt.

It‘s Team Time

Der Verzicht auf Formen geselligen Umgangs verdichtet die gemeinschaftliche Arbeit in einer Gruppe zu dem, was sie erfolgreich macht oder scheitern lässt. Wo die Tea Time ausfallen muss, beginnt die Team Time. Weil viele nicht mehr miteinander agieren in Zeiten des home office, kommt alles darauf an, dass Kollegen füreinander einstehen. Teams lassen sich vor allem negativ bestimmen: Sie sind jene sinnvoll gebildeten Einheiten gemeinsamen Wirkens, in denen das Misslingen des Ganzen als eine persönliche Niederlage erlebt wird. Die unbedingt zu vermeiden bezeichnet den Geist, der alle zusammenhält und ausrichtet, zwar nicht zureichend, aber diese Anstrengung gibt zuverlässig Auskunft über seine Bindungskräfte.

Die Welt retten

Der Menschen Los: Einig darin, die Welt zu retten, zerstreiten sie sich über der Wahl dessen, was als bewahrenswert angesehen wird.

An der Weggabelung

Wer die Krise nicht als Gelegenheit ergreift, endlich jene zähen Verfahren und starren Strukturen, überflüssigen Ämter oder veralteten Techniken, geistlosen Mächtigen wie ärgerlichen Privilegien loszuwerden, wer nicht alle Intelligenz einsetzt, Handlungsgeschwindigkeit, Orientierungsgewissheit und Seelenstabilität zu generieren oder wiederzuerlangen, wer sie nicht als ein Zeichen nimmt zum Ausbruch und Aufbruch in eine neue leichte Zeit, der hat sie noch nicht begriffen. Es gilt, dem Virus zu entkommen, indem man schneller agiert, als es mutiert.

Sag mal

Ob einer etwas zu sagen hat, merkt man am klarsten an seiner Fähigkeit zuzuhören. Der Ernst, den eigenen Geist, das Herz und die Sinne zu öffnen, spiegelt sich dann wider in der Kraft von Worten, die den Verstand der anderen erreichen und deren Handeln ermuntern.

Killerphrasen und Totschlagargumente

Gewaltfreie Kommunikation: Wer nur Phrasen drischt, den kann man mit Argumenten nicht schlagen.

Sinn und Verstand

Gelegentlich ist Gesinnung wichtiger als Sinn. Aber viel seltener, als man denkt. Das gilt auch für das Verständnis im Verhältnis zum Verstand, für eine Haltung, die sich ableitet aus dem Halt, den ein Mensch gefunden hat, für das Gewissen, das sich auf ein Wissen nicht immer berufen kann. Solange Moral als ein Sonderfall des Lebens angesehen wird, funktioniert sie. Im Alltagsgebrauch hingegen verkümmert sie zur lästigen Gängelei und überheblichen Machtgeste.

Verkehrter Aschermittwoch

Der Aschermittwoch, der im Festkalender eine Zäsur darstellt, der die Phase des Überschwangs und der prallen Lebenslust ablöst durch Formen der Besinnung, Umkehr, der Askese und der Konzentration auf Wesentliches, dieser Tag kann im Augenblick, da alles Augenmerk schon allzu lang auf Reduktion und konsequente Zurückhaltung, soziale Distanz und Einschränkung gerichtet ist, nur genommen werden als der Anfang einer neuen Zeit, in der die Lebendigkeit des Lebens und die Freude an ihr wieder ins Recht gesetzt werden.

Experten des Kompromisses

Wenn Wissenschaft auf die Politik trifft, begegnen einander zwei widerstreitende Ideale: Der radikale Wille zu Klarheit* fordert den Wunsch nach einem Kompromiss heraus.

* Vgl. Max Weber, Wissenschaft als Beruf, 32: „Ich bin auch hier versucht, wenn einem Lehrer das gelingt zu sagen: er stehe im Dienst ,sittlicher‘ Mächte: der Pflicht, Klarheit und Verantwortungsgefühl zu schaffen, und ich glaube, er wird dieser Leistung um so eher fähig sein, je gewissenhafter er es vermeidet, seinerseits dem Zuhörer eine Stellungnahme aufoktroyieren oder ansuggerieren zu wollen.“

Macht und Dummheit

Eines der erfolgreichsten Mittel, den Mangel an Intelligenz zu kompensieren, ist, auf den Stufen der Macht nach oben zu klettern.

Alter, was geht?

Wenn Selbstzufriedenheit und Sturheit, Kurzsichtigkeit und Perspektivmangel, Behäbigkeit und Bräsigkeit, das Oberlehrerhafte und die Einfallslosigkeit, Realitätsfremdheit und Dickfelligkeit, Ängstlichkeit und die Verklärung des schon Erreichten, nicht zuletzt der Wiederholungszwang, wenn das alles zuverlässige Kennzeichen mentaler Vergreisung sind, dann lässt die Seuche das politische Deutschland ganz schön alt aussehen. – Ein anderes Bild: Künstliche Intelligenz steuert kleinteilig, mindestens nach Landkreisen segmentiert, die Strenge sozialer Zurückhaltung. Die Corona-App löst einen akustischen Alarm aus, sobald eine Zone mit hoher Inzidenz betreten wird, und sendet automatisch eine Terminanfrage an das Testcenter; die Vergabe erfolgt unmittelbar elektronisch. Je nach Ergebnis der Diagnose informiert das Gerät alle relevanten Kontakte selbsttätig und bewacht durch Warnhinweise die Einhaltung der verordneten Quarantäne. Negative Schnelltests sind obligatorisch bei der Einlasskontrolle zu Großveranstaltungen vorzuweisen, gelten als Teil des Tickets bei Theaterbesuchen oder als Höflichkeitszeichen gegenüber den Gastgebern bei Familienfeiern. Man nutzt, was beim Einkauf im Netz, bei der Stauprognose im Straßenverkehr, der wissenschaftlichen oder journalistischen Recherche geschätzt wird: die Fähigkeit, Zukunft mit relevanter Gewissheit zu kalkulieren. Statt Gutscheine für Masken zu verteilen, unterstützt der Staat den Kauf von Smartwatches über Zuschüsse oder Steuererleichterungen. Und respektiert im Datenschutz, was eine der wesentlichen Bedingungen gesellschaftlich akzeptierter Digitalisierung ist: dass Berechenbarkeit eine Bedingung von Gestaltungsfreiheit darstellt, weil sie eine Eigenschaft von Vertrauenswürdigkeit ist. – Ist das naiv? Na klar, so wie es das Vorrecht eines jungen Geists ist, unbedarft sein zu können.

Der eigene Standpunkt

Es ist ein verbreitetes Missverständnis der Kritik, dass sich schon allein durch die Widerlegung einer anderen Position der eigene Standpunkt herausbildete. Wo sich einer verortet, wird kaum erkennbar aus dem, was er ablehnt. Nicht selten soll die engagierte Begutachtung und Bemängelung fremder Überzeugungen oder Haltungen ablenken von der eklatanten Schwäche, selber noch keine belastbare Einstellung zur Sache entwickelt zu haben.

Beim Wort nehmen

Auch wenn einer das Wort ergriffen hat, bedeutet das nicht, dass man ihn nun beim Wort nehmen kann. Viel eher kommt dass Umgekehrte vor: dass einer, der vom Wort ergriffen ist, sprachlos wird, weil ihm die Wörter genommen sind .

Lockdown-Locken

Das umgeschnittene Haar entbirgt in Zeiten der Ansteckungsgefahr, was jenseits von Frisur und Hair Styling an charmantem Potential auf Menschenhäuptern lockt. Der „harte Knochen“ wirkt unter den leicht gewellten Strähnen plötzlich weich und mild, der Biedermann zwar nicht gleich wie ein Brandstifter, aber lässt an seinem Zauselkopf ahnen, dass vielleicht doch mehr Anarchie in ihm steckt, als er sich selbst zugeben will. Die schneidige Botschaft hier, die Pflichtbeflissenheit dort verlieren mit wachsender Mähne an Glaubwürdigkeit. Ein Vierteljahr ohne Friseur macht deutlich: Charakter ist in jeder Hinsicht Kopfsache.

Politisch korrekt

So mancher zeigt seinen Mut bevorzugt, indem er andere öffentlich demütigt.

In Krisenzeiten

So mancher Verwaltungsvertreter und politischer Repräsentant spiegelt unwillkürlich in seinen bräsigen Rechtfertigungsbemühungen zu all den Problemen bei der Impfstoffbestellung oder der Auszahlung von Staatshilfen, dass diese Zeit beschleunigt auf dem Weg zu Neuem ist, das nicht zuletzt das für überholt „erklärt“, was sich vom Gang der Dinge nicht mitreißen lassen kann. Wie schnell in Krisen gewohnte Prozesse und fest etablierte Strukturen in ihrer Behäbigkeit und Disfunktionalität entlarvt werden, kann nur den wundern, der die Radikalität von Schwellenphasen nicht verstanden hat, die alle Ausdrucksformen einer Gesellschaft erfasst. Jacob Burckhardt notiert in seiner kleinen Theorie historischer Epochenwechsel: „Zum Lobe der Krisen lässt sich nun vor allem sagen: Die Leidenschaft ist die Mutter großer Dinge, d.h. die wirkliche Leidenschaft, die etwas Neues und nicht nur das Umstürzen des Alten will … Die Krisen und selbst ihre Fanatismen … als echte Zeichen des Lebens zu betrachten, die Krisis selbst als eine Aushilfe der Natur, gleich einem Fieber, die Fanatismen als Zeichen, daß man noch Dinge kennt, die man höher als Habe und Leben schätzt. Nur muß man eben nicht bloß fanatisch gegen andere und für sich ein zitternder Egoist sein.“*

* Weltgeschichtliche Betrachtungen, 138

Im Großen und Ganzen

Im Großen und Ganzen kann nichts schieflaufen.* Das ist die Wahrheit eines Satzes, der in seiner Bestimmtheit die ihm eingeschriebene Unbestimmtheit verschleiert und so weder Auskunft zu geben vermag über Irrtümer, Fehler oder Lügen, noch sinnvoll zu behaupten vermag, dass sie ausgeblieben seien. Die Kunst der amtlichen Rede ist, gerade so abstrakt zu sprechen, dass sich Vorstellungen noch einstellen, aber in ihrer widersprüchlichen Vielfalt zu keiner sinnlichen Anschauung, zu keinem Situationsbild zusammenfügen lassen. Das Große und Ganze ist nicht der Ort der Politik, sondern allenfalls der Philosophie.

* „Ich glaub‘, dass im Großen und Ganzen nichts schiefgelaufen ist.“ – Die Bundeskanzlerin im ARD-Gespräch am 2. Februar

Verhandlungsgeschick

Jeder, der sich in eine Verhandlung begibt, tut dies im Vertrauen und der Überzeugung, der Klügere zu sein. Da auch seine Gegner von sich dasselbe glauben, geraten alle in einen Wettstreit um zwei Arten des Gewinns: den in der Sache, um die gerungen wird, und den à la longue Einträchtigeren, an strategischem Geschick und Wortgewandtheit, an Nervenstärke oder Menschenkenntnis zugenommen zu haben. Die Enttäuschung gehört zum Wesen des Tauschs. Oft genug erlebt, verdichtet sie sich zum größten, erfolgversprechenden Vorteil in Verhandlungen: der Erfahrung.

Freies Gesicht

Je länger die Frisiersalons während des Lockdowns geschlossen bleiben, desto schmaler ist das Gesichtsfeld, an dem ein Wiedererkennen sich gewöhnlich feste Merkmale sucht. Was die obligatorische Mund- und Nasenbedeckung nicht verbirgt, erledigt eine rasch wachsende Haarmatte, die Stirn und Ohren inzwischen vollständig bedeckt. Es fehlt nicht viel, bis der Schlitz für eine klare Sicht und ein kaum noch deutliches Erblicktsein freigeschnitten werden muss.

Der Genießer

Schon das Wort „Gegenstand“ oder „Objekt“, das einen Aspekt von Widerwilligkeit, des Fremdgebliebenen mit sich führt, mag erinnern an das, was Welt für einen Menschen darstellt. Sie ist das Ensemble all dessen, das sich erfolgreich gewehrt hat und dem impliziten Hang, der jede Einsicht, jede Erkenntnis und Erfahrung unwillkürlich begleitet, entkommen konnte: der Tendenz zur Einverleibung. Was sich im Charakterbild des Narzissten noch einigermaßen krude erhalten hat, Rücksichtslosigkeit gegenüber allem, das nicht „Ich“ heißt, dessen Instrumentalisierung und Enteignung, ist der heimliche Trend in einer Objekt-Beziehung, die ungehemmt danach trachtete, das Andere zu absorbieren, um sich dessen und seiner paradox zu vergewissern, indem es die Gegenständlichkeit auflöst. Der Narzisst hat gerade keine Welt, er ist sie sich selbst – was seine Einsamkeit erklärt. Und ihm ist letztlich der Genuss versagt. Denn eine Sache genießen bedeutet, sie wertzuschätzen durch eine letzte Distanzierung und Distinktheit, die selbst im Fall des kulinarischen Vergnügens, eine Speise aufzuessen, sich noch darin ausdrückt, dass sich das Vergnügen erfüllt, bevor sich Sättigung einstellt und die Lust sich erschöpft hat.