Monat: März 2021

Alterslose Schönheit

Dieselben Falten, die einst der Schönheit die Alterslosigkeit nahmen, geben im fortgeschrittenen Alter die Schönheit wieder zurück. Sie lassen den Menschen interessant erscheinen, indem sie auf ein Leben verweisen, das zu erfahren lohnen könnte, ohne dass sie gleich verraten, was es denn erlebt hat.

Wir Spieler im Virenspiel

Vielleicht hilft, sich das Virus als einen gerissenen Spieler vorzustellen, dem keine Verschlagenheit zu schade ist, der keine Finte auslässt und sich über die Ungelenkeit und Tolpatschigkeit seines Gegners klammheimlich scheckig lacht. Welcher Intelligenz bedarf es, um in diesem Spiel, in dem gewinnt, wer das Verhalten des Kontrahenten genauer studiert hat und sich für die eigenen Zwecke durch Schnelligkeit und Antizipation zunutze machen kann, Vorteile zu erringen? Wo der andere alles daran setzt, seinen Rivalen – uns – reinzulegen, sollte der vor allem eines beherzigen: wenigstens dafür zu sorgen, dass er nicht dauernd auf sich selber reinfällt.

Das hätte man sich denken können

Das hättest du dir doch denken können, bedeutet kaum, dass einer zu wenig gedacht hat. Aber es ist immer der Hinweis darauf, dass ein anderer zu wenig gesagt hat.

Fallhöhe

Die Passionsgeschichten beginnen mit einer Reminiszenz an den Propheten Sarcharja, welcher der Stadt einen demütigen Friedenskönig verheißt, auf einem Esel reitend, ohne die Symbole der Macht zu demonstrieren (Sach. 9,9). So zieht der Weltenerlöser, nach den Berichten der späten Zeugen, in Jerusalem ein. Dennoch ist an dieser Erzählung mindestens so befremdlich wie die Jubelrufe des palmwedelnden Volks der, der sich – trotz aller Bescheidenheit – von diesem huldigen lässt. Ob hier die Fallhöhe markiert wird in einem Drama, das zwar mit Verurteilung und dem qualvollen Verbrechertod am Kreuz endet, aber nicht als Tragödie gelesen werden will? Das „Muss“ (Luk. 22, 37), als Notwendigkeit eines Geschehens, das schon in den Sehnsüchten der heiligen Literatur Jahrhunderte zuvor dokumentiert wurde, folgerichtig wieder aufgegriffen, soll keines des Schicksals sein. Es wird als Gehorsam gegenüber dem Vaterwillen beschrieben, als entschlossene Selbsteinfügung in die Tradition und Selbsterniedrigung, nicht als tragisch. Also bedürfte es der literarischen Erinnerung an den alles entscheidenden Wendepunkt gar nicht: kein Held, kein Absturz. Worauf verweist der Ritt auf dem Lasttier? Zu Beginn und zum Finale der Passion wird der Menschenretter zweimal vorgestellt – es sind die beiden einzigen Male in den Evangelien – als einer, der getragen wird und dem getragen wird. Dem Esel, der den Weltenherrn auf seinem Rücken sitzen hat, entspricht der Feldarbeiter Simon von Kyrene, der für Jesus das Kreuz schultert (Luk. 23, 26). Man lädt den Palmsonntag symbolisch nicht zu sehr auf, wenn man in ihm die Eröffnung einer Geschichtenfolge sieht, in deren Zentrum die Frage steht, was erträglich ist am Leben und unerträglich genannt zu werden verdient am Tod, nicht zuletzt am schuldlosen. Da konnte einer nicht alles heben, sondern bedurfte selber der tatkräftigen Unterstützung. Es ist die menschlichste Seite des Gottessohns, die des Getragenen. Präsentiert am Anfang und am Ende eines Leidensberichts, dessen Versprechen das einer endgültigen Entlastung ist (Matth. 11, 28 – 30). Und vom Auf(er)stehen handelt.

Ernsthaft?

Ernst wird es erst, wenn der Ernst der Lage dafür sorgt, dass die Vorstellungskräfte ganz und gar versiegen, weil das Maß an Wirklichkeit so erdrückend ist, dass die Flucht in reine Gedankenwelten versperrt ist. „Ein Mensch mit Ideen ist nie ernst“, notiert Paul Valéry.* Was indes noch keinen Rückschluss zulässt auf die Gewähr, dass die klugen Einfälle sich häufen, wenn man nur unernst genug ist. Sondern nur das sagt: dass alles darauf ankommt, sich diese Fähigkeit zum Abstand jederzeit zu erhalten. „Ein ernster Mensch hat wenig Ideen.“*

Werke 5, 421

Realismus, Optimismus, Pragmatismus

Realismus: die Phantasie, sich vorzustellen, wie eine Sache sein wird.
Optimismus: die Phantasie, sich vorzustellen, wie eine Sache werden könnte.
Szientismus: die Vorstellung, in dem Maße sachlich sein zu können, wie es an Phantasie fehlt.
Pragmatismus: die Sachlichkeit voranstellen, ohne die Sache der Phantasie zur Phantasmagorie zu erklären.
Pessimismus: weder sachlich noch phantasiereich. Aber deutsch.

Verzeihung

Die Bitte um Verzeihung ist nichts, was sich besprechen lässt. Sie zielt darauf und hofft allein, dass ihr widerfährt, wonach sie verlangt. Alles, was danach kommt, ist ein einziges Wort: Es ist gut. Der Rest sind Operationen, die Korrektur, die Kompensation. Was sagt das über ein Land und dessen politisches Selbstverständnis, dass aus dem Eingeständnis eines Fehlers, aus der mit ihm verknüpften Entschuldigung und der folgerichtigen Rücknahme einer Entscheidung ein Diskussionsgegenstand gemacht wird von der Dimension eines Staatsakts? So zu handeln, zeigt weder Stärke, noch symbolisiert es unwillkürlich Schwäche. Irrtümer und deren Bekenntnis verraten nur, dass jemand verstanden hat, was es bedeutet, menschlich zu sein.

Die Gewichtsklassen des Lebens

Die Maßeinheit, in der die Leichtigkeit des Lebens bestimmt wird, heißt Vertrauen. Je größer das Vertrauen, desto weniger lastet das Leben.

In der Defensive

Tore zu verhindern, das weiß jeder, der sich vom Fußball faszinieren lässt, ist eine Voraussetzung, das Spiel zu gewinnen. Aber meist nicht schön. Und es genügt nicht; man muss auch Tore schießen. Je mehr, desto besser. Und desto leichter, sich Fehler zu erlauben in der Abwehr. Wir reden nicht vom Sport. Wir sprechen von der Politik, die es in Deutschland nicht schafft, sich aus dem Defensivmodus, den Reaktionsmustern, der Selbstgefälligkeit und Bräsigkeit zu befreien. Im Fußball werden dann zunächst Athleten ausgetauscht; später, bei Einsicht in ein Systemproblem, wird der Trainer gewechselt. Auch noch kurz vor Saisonende. Manchmal hilft es. Der Abstieg ist allerdings besiegelt, und nicht erst nach Abschluss der Runde, wenn sich die Einsicht festgesetzt hat, dass die Erwartungen an das handelnde Personal zu hoch gesteckt sind. Das hoffnungsvolle Ende: Deutschland steht vor einer radikalen Erneuerung.

Süchtig nach Freiheit

Der große Entlarver Pandemie, der die Enttäuschungsfestigkeit einer Weltgesellschaft unbarmherzig testet mit der Wiederholung von zerbrochenen Hoffnungen, desillusioniert auch unser Verhältnis zu Freiheit. Freiheit ist eine Sucht. Also eine tiefe Abhängigkeit. Wir haben kein freies Verhältnis zur Freiheit, so dass wir von ihr lassen könnten, wenn es nicht günstig zu sein scheint, von ihr willkürlich Gebrauch zu machen.

Die feine Zunge

Je klarer ein Mensch weiß, was ihm zuwider ist, desto empfindsamer ist sein Geschmack. Der Feinsinn setzt sich zusammen aus vielen Formen der Abneigung.

Ehrlichkeit oder Anstand

„Die einzige Art, gegen die Pest zu kämpfen, ist die Ehrlichkeit.“* So steht es in der deutschen Übersetzung des Schulklassikers „La peste“ von Albert Camus. In der Originalfassung** lautet der Satz des Arztes Rieux aber: „ … la seule façon de lutter contre la peste, c’est l’honnêteté.“ Honnêteté, was meint das? In der Tat: Ehrlichkeit, allerdings auch Anstand oder Redlichkeit. Und diese Bedeutung, so legt es der Kontext nahe, scheint plausibler zu sein. Das Gespräch zwischen dem Journalisten Rambert und seinen beiden Gästen endet mit einem pragmatischen Signal des Aufbruchs: „Wir müssen weiter, … wir haben zu tun.“ Es ist dieses Zeichen zum Handeln, das den Gastgeber tags drauf veranlasst, seine Dienste anzubieten, so lang die Seuche wütet. Nicht Ehrlichkeit – Redlichkeit indes ist die Haltung, mit der man wider eine Epidemie vorgeht. Bei ihr handelt es sich um jene Art des Redens, die der Wirklichkeit Respekt zollt, die nicht täuscht oder sich selbst betrügt, die um Klarheit ringt und Differenziertheit sucht, kurz: um die Lauterkeit in den Worten, welche sich nicht zuletzt im Wissen ausdrückt, dass Worte von Zeit zu Zeit nicht genügen. Das soll die einzige Weise sein, mit der weltumspannenden Krankheit umzugehen? Zumindest wenn Redlichkeit verstanden wird als letzte Anerkenntnis von Realitäten, zu der freilich nicht nur die Beachtung steigender Fallzahlen gehört, sondern jenseits des Notwendigen auch die entschlossene Arbeit an dem, was möglich ist. Redlichkeit ist das Talent, die Hoffnung auf Besserung belastbar zu machen.

* Die Pest, 134 (Übersetzung Guido G. Meister)
** La peste (Ed. Gallimard), 153

Wahlkampf

Ein gern genutztes, weil offenkundig probates Mittel im politischen Wahlkampf ist, Missstände lautstark anzuprangern, um vergessen zu lassen, dass man sie selber verursacht hat.

Der Wissenschaft folgen

Die einzige Haltung, die dem steht, der von sich sagt, er folge „der“ Wissenschaft, ist die des (autoritäts-)kritischen Selbstdenkens, gepaart mit der selbstverständlichen Anerkennung des Realitätsprinzips. Mehr braucht es nicht, um zu vernünftigen Entscheidungen zu kommen. Geringer indes sollte der Anspruch derer nicht sein, die sie verantworten.

Rückzug

Der charmante Gedanke eines Politikerrücktritts hat leider nur den entscheidenden Makel, dass er nicht von dem stammt, den er trifft, sondern als brachiale Forderung lautstark ergeht, so dass mit dem Amt auch die Person beschädigt ist und die Hürden zur Demission ihr nun kaum überwindbar erscheinen müssen. In einer Gesellschaft, der das Selbstlob so wenig peinlich ist, wie sie die Vorverurteilung verachtet, gerät das öffentliche Eingeständnis von Fehlern zu nah an die freiwillige Selbstvernichtung. Kein Wunder, dass in ihr das, was Übernahme von Verantwortung heißt, nicht mit dem schönsten Aspekt einer Aufgabe verbunden ist, nämlich dem, sich für eine Sache mit aller Kraft einzusetzen, sondern reduziert wird auf das bußfertige Bekenntnis, gescheitert zu sein.

Fehlschritt und Fehltritt

Wie der Fehlschritt eine Kategorie des Wissens darstellt, so der Fehltritt eine des Gewissens. Mit dem Unterschied, dass jener den Fortschritt nicht aufhält, sondern bestätigt, indem er neben die Expertise den Irrtum setzt und mit dem Zweifel das Maß der Belastbarkeit in der Erkenntnis stärkt. Wohingegen dieser die Trittsicherheit verringert, indem er dem Misstrauen Vorschub leistet und mit der wachsenden Skepsis über das Maß der Unkenntnis die natürlichen Widerstandskräfte aushöhlt.

Der ideale Politiker

Der ideale Politiker: ein Opportunist mit Prinzipien.
Der korrupte Politiker: ein Opportunist aus Prinzip.
Der erfolglose Politiker: ein Opportunist ohne günstige Gelegenheiten.

Die therapeutische Wirkung eines besinnungslosen Stadtbummels

So mancher Anflug von Lähmung hat sich in den Zeiten der Ansteckungsgefahr zu einer handfesten Depression gemausert, weil es allzu lang schon untersagt ist, ihn durch einen kleinen, gepflegten Konsumrausch zu bekämpfen. Der Einkauf im Netz mag zwar bequem sein, aber seine therapeutische Wirkung ist beschränkt auf das schnelle Glück der Schnäppchenjagd, das nach der Zahlungsbestätigung rasch verfliegt und allenfalls zum Liefertermin noch einmal kurz aufflammt. Wohingegen ein hemmungsfreier Stadtbummel alle wirtschaftliche Vernunft auszuhebeln vermag, den Käufer, der in die bunte Angebotswelt besinnungslos eintaucht wie in einen erfrischenden Bergsee nach langer Tour, von sich selbst entfernt und weit über den Augenblick des Erwerbs wieder mit sich und der Welt versöhnen kann. Das haben die Fastenprediger der Nützlichkeit, die ökonomischen Zweckrationalisten noch nicht verstanden: welche Lebenskraft vom ganz und gar Unbrauchbaren ausgehen kann.

Der letzte Akt

Zwischen dem Akt und einer Akte, dem Handeln und der Verwaltung, ist die Differenz weit größer, als es der eine Buchstabe jenseits der Wortähnlichkeit markiert. Wo hier Bewegung scheint da Gegenbewegung zu sein. Zwar ist nicht alles Dringliche wichtig und, umgekehrt, nicht alles Wichtige dringlich, aber Zeitknappheit gehört elementar zum Handeln und der modernen Verwaltung. „Im Zeitalter großer Organisationen ist Zeit knapp geworden. Zeitdruck ist eine verbreitete Erscheinung. … Schlichte rote Mappen (mit längst nicht mehr eiligem Inhalt), Eilt-Mappen, Eilt-sehr-Mappen bevölkern den Schreibtisch und seine Umgebung. Einige drängen sich durch ihre Lage mitten auf dem Schreibtisch und durch einen besonderen Zettel ›Terminsache!‹ vor im Wettbewerb um Aufmerksamkeit. Die Orientierung an Fristen und fristbedingten Vordringlichkeiten bestimmt den Rhythmus der Arbeit und die Wahl ihrer Thematik.“ So beschreibt es Niklas Luhmann vor gut fünfzig Jahren.* Und unterschlägt  mit der Konzentration der Verdichtung des Anspruchs auf den Augenblick seiner Erfüllung, der im Handeln den entscheidenden Vorteil ausmachen kann, den Zwischenschritt, den die Verwaltung zu gehen hat: Jeder ihrer Akte muss mit der zuständigen Funktion zunächst abgeglichen werden. Ohne deren Initiative passiert nichts. Quod non est in actis, non est in mundo. So dass gelegentlich gar nichts geschieht, weil sich keiner gezwungen sieht, die Sache zu befördern. Der kleine Zusatz eines -e zum Akt symbolisiert die große Veränderung, die eintritt, wenn ein Problem als Verfahrensfrage behandelt wird. Weil so die Lust am Tun, die stets mit dem Risiko einhergeht, es falsch gemacht zu haben, von der Lust überformt wird, woanders hinweisen zu können, wenn es nicht gelungen war. So lange nicht geklärt ist, wem es im Zweifel zugeschrieben werden könnte, rührt sich nichts.

Die Knappheit der Zeit und die Vordringlichkeit des Befristeten

Immunantwort

Wichtige von wesentlichen Themen unterscheiden sich spätestens in dem Augenblick, da jene sich erschöpfen, wenn man sie nur lang und intensiv genug behandelt hat. Wohingegen diese mit ihren Fragen selbst dann noch drängen, da Antworten zuhauf gegeben worden sind.

Gerechtigkeitssinn

Nichts stört den Sinn für Gerechtigkeit mehr als das hartnäckige Bemühen, es allen recht zu machen.

Der Tod in der Ökonomie

Das Prinzip der Effizienz, das die kürzeste Verbindung zum Ziel zur idealen erklärt, ist nur insofern vernünftig zu nennen, als es nicht nur eine Sache, sondern auch ein Leben vom Ende her denkt. Der handelt ökonomisch, der jederzeit weiß, dass sein eigenes Dasein derart begrenzt ist, dass es sich unendlich viele Aufgaben und in der einen unendlich viel Zeit nicht leisten kann. Fast wäre man versucht, die Effizienz als ein Existenzial anzusehen.

Der böse Wille

Man kann so manchem Streit aus dem Weg gehen, wenn man den Anschein von Böswilligkeit, mit dem er entfacht wird, als ein Zeichen von Überforderung nimmt.

Achtung

Das allzu deutsche Wort „Achtung“ bedeutet Vorsicht und Rücksicht gleichermaßen. Das mag sich im Respekt niederschlagen als der Fähigkeit, Fremdem ohne Angst zu begegnen.