Monat: März 2021

Keine Umstände

Im ernsten Bemühen um Objektivität versucht jede Statistik, das höchst individuelle Erkenntnisinteresse dessen, der sie ermittelt hat, schon bei der Frage, die zu untersuchen ist, auszuschalten. Die wird in der Regel so allgemein gestellt, dass sie niemanden in die Verlegenheit führen will, auf sie mit persönlich gefärbten Geschichten zu erwidern. Auch die ergäben zwar ein Bild der Umstände, ein viel plastischeres gar, aber sie erlauben eines nicht: den Vergleich und die aus ihm gezogene Bewertung. Nicht zufällig zeigt die Statistik darin ihre Nähe zur Geldwirtschaft, die ihrerseits alle Abstraktheit nutzt, um Entferntes in eine Konkurrenz zu zwingen, aus der sich leicht eine Rangfolge ermitteln lässt: vom Preisvergleich bis zum Schätzwert. Das kulturelle Unbehagen an der Statistik, das sich im Verdacht artikuliert, sie sei prinzipiell geistlos, darf sich auf diese Verwandtschaft berufen.

Der letzte Stadtcowboy

An diesem Samstagmorgen kämpft die Frühlingssonne mit dem winterlichen Nachtfrost um die Vorherrschaft jenseits der Nullgradgrenze. Ihre noch schwachen Strahlen spiegeln sich stumpf im Basaltpflaster vor dem Brunnen. Man ahnt die Wärme, zu der sie später am Tag fähig ist, wenn der Platz sich gefüllt haben wird. Ein frischer Espresso im Pappbecher gibt den klammen Fingern kurz das Gefühl von Behaglichkeit, bevor sie sich wieder in den dicken Handschuh verkriechen. Der letzte Cowboy der Metropole, mit Stetson und Jeans, ist auch schon auf den Beinen und nestelt zwischen den Stufen der Sandsteintreppe am Rathaus herum; er sammelt das Glitzerpapier ein, bunt und in Herzform, das übrig ist vom Glücksregen, der über dem gestern im Amt getrauten Paar niedergegangen war. „Ich sammele Herzen“, brummt er wiederholt in sich hinein. Da kreuzt, laut und mit heiserer Stimme, ein zweiter Großstadtnomade die Spur und ruft im Singsang, vom Widerhall der Fachwerkhäuser ermuntert: „Ich bin der Verteidigungsminister von Japan, bi scho hi“ – was auch immer das bedeutete. Der Cowboy schaut kurz auf den weißhaarigen Kollegen des Selbstgesprächs, drückt ihm eines der Papierherzen in die Hand und sagt: „… damit du nicht auf dumme Gedanken kommst“. Dann geht jeder friedlich seiner Wege.

Wir Verhinderer

Ein Leben ohne Unbedarftheit ist nicht nur äußerst anstrengend. Es macht vor allem nicht froh, weil es sich nicht frei anfühlt. Wo eine gestrenge Sprachpolizei sich reflexhaft auf den Gebrauch von „bösen“ Wörtern stürzt und sie als unmittelbare Repräsentanten von Geist und Haltung nimmt, bleibt für Doppelbödigkeit, Doppelsinn, Zweideutigkeit und Zweifel, Fragwürdigkeit und Fraglosigkeit, für Witz oder Ironie, Flirt und Augenzwinkern kein Platz. Das Ziel ist der Rufmord des oder der einen und die Einschüchterung aller anderen. Moralische Korrektheit tritt nicht ein für das Recht der Zukurzgekommenen und Schwachen; sie gibt das vor, um das eigene Ressentiment zu tarnen. Wer die Formen der klaren Auseinandersetzung und des gebildeten Streits nicht kennt, reduziert Meinungsdifferenz auf das entrüstete Geschrei hier und die vorschnelle Entschuldigung dort, ohne der Sache zu dienen. Nicht alles, was wie Verletztheit klingt, hat den Anspruch, jenseits von individueller Empfindlichkeit Bedeutung zu erlangen; nicht jede Erläuterung, die das tiefe Bedauern wiederholt, kennt die ehrliche Zerknirschung. Am Ende spielen sich Heuchelei und Abstraktheit in die Hände. Die hohle Anklage und die noch hohlere Abbitte werden übertrumpft von einer hölzernen Sprache, die vor lauter Angst, das Falsche zu sagen, sich in Abkürzungen ergeht: POC, LGBTIQ, cis, N-Wort, m/w/d, FINTA oder FLINT, TERF, CAFAB und CAMAB. Der Kampf gegen den Alltagsrassismus verlangt ein höheres Niveau.

Mit

In einer Demokratie kommt alles darauf an, dass das elementare Bedürfnis mitzureden von zwei Seiten sinnvoll begrenzt wird: durch die Anstrengung mitzudenken und die Pflicht mitzugestalten.

Komm mir bloß nicht zu nah

Künste wie die Architektur oder die Rhetorik, die seit alters das Verhältnis von Nähe und Distanz austarieren, stehen in einer Welt, die sich einübt in lebensverträgliche Arten des Abstands, vor der Aufgabe, neue Spielräume zu definieren, im Bau wie in der Rede. Wie müssen Plätze gestaltet, Stadien konstruiert, Kaufhäuser, Kirchen, Konzertsäle geplant und Parks oder Innenstädte angelegt werden, in denen das aufgekommene Unbehagen an der Unmittelbarkeit in anmutige Formen übertragen ist, so dass Menschen sich versammeln können, ohne gleich eine Menschenansammlung bilden zu müssen? Die Sprache wiederum kennt sich bestens aus mit dem Feinsinn von Unterscheidung und Berührung, Weite und Beziehung, an dem sie ihre Wirkkraft entfaltet und von dem sie ihre Erfindungsgabe fordern lässt. Denn sie weiß, was im Sozialen ein offenes Geheimnis darstellt und oft dennoch in Vergessenheit gerät: dass Distanz nicht das Gegenteil von Nähe darstellt, sondern deren Voraussetzung. Was ließe sich für die gewinnende Rede, die anzieht und einnimmt, folgern, wenn sie nicht mehr auf die Masse zielt, obwohl sie eine Mehrheit erreichen will? Es sind, hier wie dort, schönste Aspekte souveräner Individualität denkbar.

Treppauf, treppab

Es ist ein verlässliches Zeichen für den Niedergang eines Politikers (der ja nicht mit dem Verlust seiner Fähigkeiten einhergeht wie in der Formkrise des Sportlers oder der ruinösen Selbstdemontage eines Künstlers, sondern nur mit verweigerter Wählergunst), wenn das Publikum Ernstgemeintes verlacht und es ihm übelnimmt, sobald er sich vergnügt. Das Ende ist in dem Moment erreicht, da er sich über seine schlechte Behandlung in den Medien zu beklagen beginnt.

Leiden und Leidenschaft

Die Binnenstruktur der Passionsgeschichten im Testament: Es soll das größte Scheitern zum Zeichen taugen für das größte Gelingen (Luk. 11,29). Absurd zu sagen, aber dort, wo der Augenschein keine Wahl lässt, als zu meinen: das war nichts, dort könnte ein verständiger zweiter Blick entdecken, dass es um alles gegangen – und gut ausgegangen ist. Wenigstens die Dezenz, nicht vorschnell zu sein im Urteil, mehr noch die Vorsicht vor dem allzu Offenkundigen könnte jener verstörenden Botschaft entnommen werden, auf die hin jeder ihrer Sätze zustrebt, in dem sie umschrieben wird: dieser Tod bedeutet nichts als Leben.