Tag: 5. März 2021

Wir Verhinderer

Ein Leben ohne Unbedarftheit ist nicht nur äußerst anstrengend. Es macht vor allem nicht froh, weil es sich nicht frei anfühlt. Wo eine gestrenge Sprachpolizei sich reflexhaft auf den Gebrauch von „bösen“ Wörtern stürzt und sie als unmittelbare Repräsentanten von Geist und Haltung nimmt, bleibt für Doppelbödigkeit, Doppelsinn, Zweideutigkeit und Zweifel, Fragwürdigkeit und Fraglosigkeit, für Witz oder Ironie, Flirt und Augenzwinkern kein Platz. Das Ziel ist der Rufmord des oder der einen und die Einschüchterung aller anderen. Moralische Korrektheit tritt nicht ein für das Recht der Zukurzgekommenen und Schwachen; sie gibt das vor, um das eigene Ressentiment zu tarnen. Wer die Formen der klaren Auseinandersetzung und des gebildeten Streits nicht kennt, reduziert Meinungsdifferenz auf das entrüstete Geschrei hier und die vorschnelle Entschuldigung dort, ohne der Sache zu dienen. Nicht alles, was wie Verletztheit klingt, hat den Anspruch, jenseits von individueller Empfindlichkeit Bedeutung zu erlangen; nicht jede Erläuterung, die das tiefe Bedauern wiederholt, kennt die ehrliche Zerknirschung. Am Ende spielen sich Heuchelei und Abstraktheit in die Hände. Die hohle Anklage und die noch hohlere Abbitte werden übertrumpft von einer hölzernen Sprache, die vor lauter Angst, das Falsche zu sagen, sich in Abkürzungen ergeht: POC, LGBTIQ, cis, N-Wort, m/w/d, FINTA oder FLINT, TERF, CAFAB und CAMAB. Der Kampf gegen den Alltagsrassismus verlangt ein höheres Niveau.