Eine Lesefrucht. Der Text ist geschrieben worden vor knapp hundert Jahren:
„Dem Radikalen heißt Leben und schlechtes Gewissen haben, Dasein und Verrat am Geiste ein und dasselbe. Seine Haltung wird von einem dauernden Insuffizienzbewusstsein getragen, so dass er es durch Überbetonung der Geistigkeit, durch Verabsolutierung seiner Ziele, durch Überspannung seines Willens zu kompensieren sucht. Radikal sein bedeutet Moralismus der Leistung, Misstrauen gegen Freude und Genuss, Verachtung des Scheins, des Leichten, alles dessen, was von selbst geht, Verehrung der Schwierigkeit und nur zu williges Bejahen der Bitterkeiten, die aus der Inkongruenz unseres Willens mit der Welt hervorgehen. Für den Radikalen gibt es nur ein Gesetz: Gründlichkeit.“*
* Helmuth Plessner, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus (1924), Gesammelte Schriften V, 15