Monat: März 2023

Glücklicher Zweifel

Es gehört zum Glück, dass sich an ihm zweifeln lässt, genauso wie zum Unglück gehört, dass es immer zweifelsfrei erscheint.

Körpersprache

Das Wesen der Beobachtung besteht darin, Körper von Dingen oder Menschen so lesen zu lernen, dass sie nicht nur beschrieben werden können, sondern sich zuletzt plausible Geschichten über sie erzählen lassen.

Die kompromisslose Demokratie

Eine der größten Anfechtungen der modernen Demokratie ist, dass sie wesentlich vom Kompromiss lebt, es aber vielfach mit Gestaltungsproblemen zu tun hat, deren Lösung im tiefsten keine Kompromisse verträgt.

Gelegenheitsmoral

Pragmatismus ist nicht Prinzipienlosigkeit, aber Prinzipienfreiheit, was weniger die Freiheit von einem Prinzip bedeutet, als dass sie jene Haltung meint, die eine Handlung prinzipiell an die Freiheit bindet.

Lastenausgleich

In jedem Eingeständnis, das Fehler bekennt, Schuld gesteht, Versäumnisse zugibt, versteckt sich die unausgesprochene Bitte, andere mögen jene Lasten, und seien es die der Scham, mittragen. Nicht die ins Wort gesetzte Offenbarung des Heimlichen und Peinlichen befreit (das denkt nur die Psychologie), sondern die Zusicherung einer Gemeinschaft, die selbsteinsichtig genug ist zu wissen, dass sie zum selben Versagen fähig ist, den Gescheiterten nicht auszustoßen. Eine Gesellschaft funktioniert in dem Maße, wie es ihr gelingt, mit dem Fremden und Befremdlichen umzugehen.

Ach, die paar Jahre

Was in der Jugend als Begabung zum Romantischen für Auf- und Ausbrüche sorgt, ist im Alter als Sentimentalität gefährlich nah an die Abbruchkante zum Lächerlichen gerutscht.

Das Dreifachtalent

Keine Klarheit ohne Konfliktfähigkeit und Kommunikationswillen.
Keine Konfliktfähigkeit ohne klare Kommunikation.
Keine Kommunikation ohne den Willen zum klärenden Konflikt.

Gepflegte Abneigung

Zu den intellektuellen Vergnügen zählt, oft unterschätzt, der Zorn, der die vorgebrachte Argumentation als dümmliches Gerede entlarvt. Der Aggression eine zivilisierte Form geben zu können, die in der Auseinandersetzung scharf und überlegen sich zeigt, hebt die Stimmung im Gefühl, einem höheren Wert, dem Wahrheitsanspruch, gefolgt zu sein, und auf niedere Regungen, den Gesprächsgegner für doof erklären zu müssen, verzichten zu können. Das leistet meist schon dieser selbst, indem er sich wehrt.

Original und originell

Es gibt zwei Arten der Originalität, die der verblüffenden Themensetzung, der Erfindung nie gekannter Gegenstände, des Aufbruchs in unerforschtes Terrain, der genialen Regelsetzung für eine ganze Generation. Und die andere, die eine feste Frage vielfach variiert, die im Plural produziert, immer wieder anders, die den Einfällen folgt. In den meisten Fällen ist ein Mensch originell, ohne Originales zu schaffen. Umgekehrt funktioniert es nicht: Alles Originale ist auch originell.

Ein klarer Kopf

Ergänzend zum analytischen Ideal der Klarheit, auf das der Mathematiker René Descartes das Denken mit Beginn der Neuzeit streng verpflichtet, hat dessen Schüler, der Physiker Blaise Pascal, die Kraft der Liebe gesetzt, den mächtigen Ordnungswillen vom absoluten Bewegungsprinzip der Welt begleiten lassen. „Das Herz hat seine Gründe, die der Verstand nicht kennt“, heißt der berühmte Satz.* Er hätte modern hinzufügen können: Der Verstand hat seine Abgründe, die das Herz erst füllt.

* Pensées IV, 277

Freispruch

Am wenigstens verträgt es die Bitte um Verzeihung, zur belanglosen Floskel entwertet zu werden. Denn sie macht sich abhängig von dem, der sie annimmt. Das flüchtige, eingekürzte „Tschuldigung“ hingegen hat nichts von der folgenreichen Einsicht, verantwortlich zu sein, sondern mag als Entlästigungsform durchgehen für ein Unbehagen, das kaum als Last, aber gerade noch als so leidige Angelegenheit verspürt wird, dass man sie nicht mundfaul ignorieren kann. Da wird das eigene Versagen mit der Erledigung der Sache zu einem schnellen Gestus zusammengezogen, auf den im Ernst auch verzichtet werden könnte. Es ist der Rede nicht wert, so dass die äquivalente Erwiderung nur sein kann: Kein Problem.

Taktmaß

Niemand ist so geschickt in der Kommunikation wie der Dirigent, dem es gelingt, in der bloßen Andeutung seiner Gesten die präziseste Antwort unmittelbar zu fordern. Das Orchester gehorcht, weil es weiß, was die Zeichen bedeuten, ohne dass es sich seinem Willen blind unterwirft. Nur so, in der Klarheit geführter Bewegungen, die das Zeitmaß und die Ausdrucksstärke bestimmen, entsteht die Interpretation einer Komposition zum Stück, dem Musiker wie Publikum gleichermaßen verfallen. Und in diesem Hingerissensein die schönste Form der Freiheit, als Folge eines Befehls, erleben.

Total langweilig

Die abstrakteste Bestimmung der Langeweile ist: Perfektion ohne die Ahnung seines Gegenteils. Alles, was sich den Anschein des Totalen, des Absoluten, des Makellosen gibt, verliert schnell an Aufmerksamkeit. Schönheit, die alle Erinnerung ans Hässliche überstrahlen will, Anständigkeit, die kaum mehr zu erkennen gibt, was sie an Wildem kämpferisch zu überwinden hatte, Brillanz im Denken oder Reden, der das Gebrochene und Verzweifelte, das angestrengte Suchen und Fragen abhanden gekommen ist, sie alle mögen kurz verzaubern. Aber sie halten das wesentliche Versprechen nicht: lebendig zu sein. Langeweile ist immer ein Mangel an Lebendigkeit bei einem Überschuss an Lebenslust.

Denk nicht so viel

Über eine Sache nachdenken bedeutet, ihr die Unschuld zu nehmen.

Möchte, könnte, dürfte

Wenn Freiheit einen festen Ort hat, dann in der Grammatik. Er heißt Konjunktiv und ist wie eine Zeitmaschine, mit der sich Vergangenheit und Zukunft bereisen lassen, vor allem aber das Drängen der Gegenwart, die Beschränktheit der Realität überwinden. Das Jetzt gibt sich stets den Anschein der Notwendigkeit, jetzt oder nie. Es ist illusionslos. Wohingegen Morgen und Gestern einladen, grenzenlos zu träumen, Erinnerungen in Gedanken überschrieben werden und Erwartungen zu den kühnsten Handlungen verleiten.

Lebendig sein

Nichts hält vom Leben mehr ab als die Sucht nach Leben.

Ansprüche ans Arrangement

Wann die Zeit reif ist für Verhandlungen? Die besten Kompromisse macht man immer dann, wenn man keine Kompromisse machen muss.

Mitarbeitergespräch

Auch das Lob ist eine Form der Anerkennung. Und doch ist der Unterschied zwischen beiden fundamental. Wer lobt, zielt auf die Person; wer anerkennt, meint zuerst die Sache. Das Lob, so sehr es zu schmeicheln vermag, kommt von oben herab (und kennzeichnet den, der es schenkt, als urteilsfähig). Die Anerkennung würdigt die Leistung und über sie den, der sie erbracht hat. Anerkennung lässt sich monetär ausdrücken, Lob nicht. Sie macht frei, wohingegen das Loben verpflichtet.*

* Michael Köhlmeier sieht es umgekehrt: „Lob meint eine Sache, die ich gut gemacht habe; Anerkennung meint mein Wesen, mich ganz und gar, meine Existenz.“ – Wenn Ich Wir sage, 8 (Das scheint mir nicht dem Alltagsgebrauch der Sprache zu entsprechen, eher dem philosophischen.)

Das wahre Schöne

Design ist was für Leute, die nicht mehr wissen, was schön genannt zu werden verdient.

So

Zufälliges Aufeinandertreffen in der Stadt

Er: Und du so?
Sie: So lala.
Er: Soso.
Sie: So what.
Er: So long.
Sie: So kommst du mir nicht davon.

Weder blind noch Fleck

Jemanden verstehen ist keine schwache Vorform des Durchschauens. Oder gar dessen Ergebnis. Nein, Menschen zu verstehen heißt vor allem zu verstehen, dass sie sich nicht durchschauen lassen.

Vokalmusik

Schon mit der frühen Entdeckung, dass der Gebrauch einer Stimme Einfluss nimmt auf die Umgebung, dass sie Menschen oder Tiere beeindruckt, sie auf Abstand hält oder neugierig sein lässt, dass der kräftige Ruf große Weiten überwindet, hat sich wohl auch, parallel zur Verfeinerung der Laute in der artikulierten Sprache, der Gesang ausgebildet. Jagdlieder, Kriegsgeheul, das metaphorische Pfeifen im Wald, sie zeugen von der raumgreifenden und raumgestaltenden Macht der Stimme, die bis in die Konzertsäle reicht und ein Publikum zu bezaubern vermag. Was wundert, dass in Augenblicken, da die Räume eng werden oder gar das Gefühl für sie verschwindet, wie in Angst oder Paniksituationen, alles am sinnvollen Gebrauch der Stimme hängt. Weniger der ausformulierte Satz, vielmehr ein beruhigendes Summen oder Brummen, nicht zuletzt eine Melodie kommen der Angst am besten bei, weil sie Resonanzen erzeugen, also ein Gespür zurückgeben, das in der Furcht auf ein Zittern reduziert ist: die schöne Gestimmtheit und Stimmigkeit eines Raums.

Das Minimum

Respekt ist kein Gefühl. Sondern der Wille, es auf Gefühle gerade nicht ankommen zu lassen.

Mathematik der Beziehung

In Beziehungen ist es ein Unterschied im Ganzen, ob Nähe als eine Funktion des Abstands verstanden oder die Distanz als eine Ableitung der Vertrautheit wahrgenommen wird.