Monat: April 2023

Wahlgeschenke

Der Gemeinderat setzt sich neu zusammen. Es ist Wahlkampf im Dorf. Auf dem Parkplatz vor dem Supermarkt haben sich zwei Parteien so positioniert, dass der Wochenendeinkäufer nicht ohne ein Präsent davonkommt. Es wird genau auf Parität geachtet. Wer hier die Topfpflanze mit grünem Windrädchen aus gewiss nicht recyceltem Plastik nimmt, lässt sich auch dort den Kugelschreiber in die Hand drücken. Man kennt sich. Dieselben, die abends im Shantychor in der Ortskneipe melancholische Seemannslieder anstimmen, markieren nun angestrengt die politischen Differenzen. Sie sind nicht groß. Kaum wunderlich daher, dass sich schon bald die Bürgermeisterin am Stand der Opposition lachend präsentiert, während der Herausforderer in einer stillen Ecke mit dem Küster ernst plaudert und kein Interesse an den Passanten zeigt. Sich öffentlich streiten, das passt nicht. Die Auseinandersetzungen werden ohnehin geführt, wo auch die Entscheidungen getroffen werden: in den Hinterzimmern, stets so, dass für alle, die dabei sind, auch privat etwas abfällt. Man sichert sich mit Gefälligkeiten das Wohlwollen derer, die mitreden dürfen. Denn morgen treffen sich die Landfrauen zum Tagesausflug. Da soll kein Unfrieden aufkommen. Es ist Politik wie in der großen Hauptstadt, nur ehrlicher, weil das Fassadengezänk fürs Publikum ausfällt.

Zeitvertreib und Zeitverschwendung

Das Ziel aller Kultur ist, vergessen zu machen, dass wir Zeit haben, weil alles Bewusstsein von der Zeit darin besteht, nicht vergessen zu können, dass wir keine Zeit haben. Nur wer mangels Faszination die Zeit nicht vergessen kann, muss sie vertreiben, was nichts anderes bedeutet, als dass er sie verschwendet.

Gewisse Entscheidungen

Das Gewissen, dem ein gewählter Politiker in einer repräsentativen Demokratie im Letzten verantwortlich zu sein sich wissen sollte, ist eine unbestimmte Instanz, deren Entscheidungen zwar unbedingt sind, deren Rechtfertigungen aber immer nur ungenügend sein können. Weil er nicht Delegierter, sondern Abgeordneter in einem Parlament ist, folgt er keinen fremden Direktiven, sondern jenseits des Fraktionszwangs stets der eigenen besseren Einsicht. Nur auf die gilt es einzuwirken, das gehört zur politischen Hygiene, die Gewalt ausschließt, genauso, wie die Pflicht des Politikers, dafür zu sorgen, dass das Gewissen in seiner Sensibilität nicht durch dauerhafte Ignoranz korrumpiert und so ausgeschaltet wird. Ein gewissenloser Politiker ist in einer Demokratie ein Widerspruch in sich selbst.

Leidenschaftslos

„Ich bin da leidenschaftslos.“ So heißt es in der Sprache leitender Angestellter tonlos, wenn Entscheidungen abgesprochen werden, die, derart deutlich will es keiner sagen, einem herzlich gleichgültig sind. Es kommt so selten nicht vor. Da das eigene Urteil ohnehin im diskreten Zwang der Prozesstreue, dem Diktat von Standards und der unfraglichen Ordnung durch Hierarchien oder eingeschliffene Muster aus informellen Vorrechten nie bedeutsam ist, bildet sich ein Gestus heraus, der den Anschein kommunikativer Lebendigkeit aufrechterhält, hinter dem sich aber längst ein blasser Opportunismus bequem eingerichtet hat. Warum sich regen, wenn das Organisationsideal die Freiheit von Reibungsverlusten ist. Es könnte ja Anstoß erregen. Mit der epikureischen Glücksvorstellung der Ataraxie, der unerschütterlichen Seelenruhe hat das nichts zu tun. Die Seele des modernen Managertypus ist nie so unruhig gewesen, dass sie je der Gelassenheit bedurft hätte, und seine Vernunft kaum wild in Anspruch genommen, dass sie in dieser ihre Befreiung ersehnte und erstrebte. Leidenschaftslos zu sein, ist die Haupteigenschaft des Funktionärs und Verwaltungsbeamten, die letzte Vorstufe der Ersetzbarkeit durch kluge Maschinen.

So ehrlich, so trivial

Eine Lesefrucht, Liebrucks über Hegels „Phänomenologie des Geistes“:

„Das ehrliche Bewußtsein unterscheidet sich von diesem niederträchtigen und zerrissenen nur dadurch, das es auf eine triviale Weise dasselbe sagt, was jenes längst geistreich gestanden hatte … Die Vernunft kann die gebildete Vielfalt und den Reichtum des Geistes, zu dem sie gekommen ist, nicht mehr für die Einfalt des Herzens aufgeben. Die Welt der Zerrissenheit kann nicht durch Rückkehr in eine nunmehr falsche Einfachheit überwunden werden.“*

* Bruno Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, 5, 217

Plädoyer für das Unbewusste

Die volkstümliche Vorstellung vom Pragmatischen, ohne tiefer nachzudenken eine Sache einfach anzupacken, ist zwar einfältig. Aber sie taugt auch als Erfolgsformel für alles, was einen Entwicklungsschub braucht. Solange das Grundvertrauen in die Funktionsfähigkeit der eigenen Vernunft nicht erschüttert ist, kann die Reflexion verschoben werden auf einen späteren Zeitpunkt. Es gehört zu den wichtigsten Eigenschaften der Klugheit zu wissen, wann das Denken dem Handeln vorangestellt werden muss und wann es ihm nachgeordnet zu sein hat.

Zwei Wege

Die beiden Grundkräfte, durch die das Zusammensein, nicht nur in seinen Extremen, geprägt ist, Liebe und Hass, wirken zu Beginn beide mit großer Faszination. Kaum anderes verdichtet die weitgefächerten Interessen des Lebens auf eine einzige Frage in dem Maße wie der Geliebte oder das Gehasste. So fängt es an. Dann aber streben diese Antriebe in gegensätzliche Richtungen. Der Hass bleibt monothematisch, auf den engen Blick verhaftet; die Liebe entwickelt und fördert Phantasien, die nicht nur auf sie konzentriert sind. Sie sucht das Offene in der Welt.

Noch möglich

Wenn fest zementierte Machtverhältnisse aufgebrochen werden, ist der spontane Jubel über die Leistung dessen, dem man einen Erfolg nicht zugetraut hat, durchsetzt mit der größeren Freude, Möglichkeiten zu entdecken, wo sie verschüttet waren. Das, was dem einen gelungen ist, erweckt im anderen die Zuversicht, es ihm nachzutun. Niederlagen der scheinbar Unbesiegbaren enthalten immer auch die Nachricht, dass die wahren Regenten der Welt Freiheit und Zufall heißen.

Philosophie leben, über das Leben philosophieren

Die Maxime des Sokrates, die Montaigne in den griffigen Essai-Titel gefasst hat, Philosophieren heiße sterben lernen, ist genauso falsch wie die Hoffnung trügerisch, es ließe sich aus der Philosophie etwas über das Leben lernen. Umgekehrt wird ein Schuh draus: Wenn es gelingt, sorgt das Leben gelegentlich dafür, dass wir philosophieren lernen, indem wir lernen, dass wir sterben müssen.

Mehr Klima, weniger Atmosphäre

Die Jahreszeiten werden eindeutiger und haben es eiliger: Frühling und Herbst, ohnehin schwer als eigenständig zu nehmen, weil sie oft nichts Halbes waren, nichts Ganzes, verdichten sich (der Frühling ist in diesem Jahr auf einen Freitag gefallen); Sommer und Winter hingegen, die Hauptsaisons im Wetterkalender, dehnen sich aus. Es wird heiß hier und nass dort. Der Klimawandel lässt das Zwischen und den Übergang verschwinden.

Worauf zielt das Reden?

Das einzige zuverlässige Kriterium, an dem sich messen lässt, ob das Reden gelungen ist: danach ist das Maß der Ungewissheit geringer.

Gute Kommunikation

Die Pointe guter Kommunikation liegt nicht darin zu verstehen, was man tun muss, um Missverständnisse auszuschließen, sondern dass man nichts tun kann, um Missverständnisse auszuschließen. Dieses Nicht-Können aber, und das ist die Kunst, rechtfertigt nicht, die Anstrengung, Missverständnisse zu vermeiden, zu lassen; in ihm steckt vielmehr die Aufforderung, alles zu tun, dass daraus kein Unverständnis erwächst.

Fällige Gefälligkeiten

Gefallen will jeder. Aber es sind nicht die Gefälligkeiten, die das Interesse an einem Menschen wecken, sondern Auffälliges, gelegentlich das, was nicht gefällt. Gefälligkeiten ohne das Ungefällige gefallen nicht, sondern langweilen. Auffällig sein zu wollen, ohne gefällig, ist zwar nicht langweilig, aber nervt. Das Ungefällige hingegen, schon weil es sich nicht leicht instrumentalisieren lässt, ist der Schlüssel zur dauerhaften Aufmerksamkeit der anderen.

Alles, was möglich ist

Modaltheorie der Gegenwartspolitik: Wenn nur möglich ist, was realistisch zu sein scheint, wird niemals wirklich, was notwendig ist. Aber man darf nicht das Unmögliche wollen, wenn das Unwahrscheinliche gelingen soll.

Verschiebung des Abschieds

„Weil jeder Mensch auf Grund des Geborenseins ein initium, ein Anfang und Neuankömm­ling in der Welt ist, können Menschen Initiative ergreifen, Anfänger werden und Neues in Bewegung setzen.“* So schreibt es Hannah Arendt in ihrer Abhandlung über das Tätigsein. Das bestimmt auch unsere Vorstellungen dort, wo wir zur Untätigkeit gezwungen sind, bei erlittenen Trennungen oder im Sterben: Sie werden umgedeutet zu Anlässen eines Neubeginns.

* Vita activa, 215

Kalte Intelligenz

Mit jeder gefälschten Nachricht, jeder vorgetäuschten Stimme, jedem Foto, das vorgaukelt, was nie geschah, mit jeder Lüge und jedem Verrat wächst das Misstrauen in die Welt. Wenn zwischen Wahrheit und Irrtum nicht mehr einigermaßen zuverlässig zu unterscheiden ist, geht auch das Vertrauen in uns selbst dahin. Die Kunst der perfekten Illusion ist der Totengräber von Gemeinschaften und Gesellschaften, die erst durch ihren Wirklichkeitssinn stabil gehalten werden. Wohin die Entwicklung künstlicher Intelligenz führt? Es gibt nur eine Antwort: in die kälteste aller Einsamkeiten.

Schöner und hässlicher Ehrgeiz

Die hässliche Seite des Ehrgeizes ist, dass er sich oft mit der Zwanghaftigkeit verbündet. Dann wird der Erfolg über alles gestellt und im Leben als Ziel so in den Mittelpunkt gerückt, dass der Zweck, lebendig zu sein, verraten ist. Schön hingegen erscheint der Ehrgeiz, wenn die Unzufriedenheit über das, was noch nicht erreicht ist, die Lust auf Entdeckungen nachhaltig nährt und die Achtsamkeit auf diese Differenz stets Anlass ist, sich über Errungenes in dem Maße zu freuen, wie das Erwartete ungeduldig angestrengt wird.

Zeiterfassung

Der hohe Begriff der Philosophie, sie sei ihre Zeit in Gedanken erfasst*, lässt sich nur einlösen, wenn sie gestattet, ihre Gedanken von der Zeit erfassen zu lassen.

* Vgl. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke 7, 26

Lebenswille

Hoffnung zu haben bedeutet, dass das, was man noch erleben will, mehr zählt als das, was man schon erlebt hat.

Zweimal Ich

Der schwache Teil des Ich fühlt sich verfolgt; der starke begehrt.

Die Kraft der Kunst

Ein Bild, eine Geschichte, eine Skulptur, eine Komposition – ein Werk, das nicht in seine Betrachtung zwingt, verdient nicht die Bezeichnung „Kunst“. Es taugt allenfalls zur Dekoration.

Vom Suchen und Finden

Auch das ist ein, vielleicht religiös eher unbeachtetes Element der Ostererzählungen: die Selbstkorrektur eines Worts, das ohnehin in seinem schalen Automatismus unglaubwürdig ist. Nicht gilt, und es hat wohl nie gegolten: Wer sucht, der findet (Luk. 11,10). Nicht einmal: dass nur der finden kann, der gesucht hat. Sondern als Glücksfall: wo der Suchende gefunden wird, auch wenn er, wie die Frauen am leeren Grab, am falschen Ort gewesen ist. Diese Entkoppelung von Bedürfnis und Erfüllung, Irrtum und Scheitern, verbissener Hoffnung, in der die Enttäuschung längst vorweggenommen ist, macht überhaupt erst möglich, was am Ende Geschenk zu heißen verdient. Gnade ist, um in das Wesentliche der Auferstehungsgeschichte zurückzukehren, wenn der Lebende bei den Toten nicht zu finden ist (Luk. 24,5), so dass die Lebenden das Tödliche nicht mehr suchen.*

* Heute vor zehn Jahren genau erschien die erste der Notizen. Allen, die mitlesen und mitdenken, ein frohes Osterfest.

Denken des Glaubens

Theologie heißt: Antwort auf alle Fragen. Glauben heißt: Sie gar nicht erst zu stellen.

Nichts Menschliches

Das ist die Bedingung für einen Gott, dessen Charakterzug ist zu trösten (was bedeutet, dass er sich eingelassen hat auf die intensivste Form des Daseins – das Mitsein): gleichsam die Probe zu bestehen in jenem Augenblick absoluter Trostlosigkeit, dem Tod, in dem gerade nichts als Trost bleibt, weil Hilfe schon längst nicht mehr wirkt. Der zum Sprichwort geronnene Satz des Mitgefühls, einem sei nichts Menschliches fremd, erhält an diesem äußersten und letzten Punkt humaner Existenz so erst seine theologische Glaubwürdigkeit.* Nur Sterbliche können trösten; nur der Lebendige überwindet die Trostlosigkeit.

* „Ich bin ein Mensch, nichts Menschliches, meine ich, ist mir fremd.“ – Terenz, Der Selbstquäler, V. 77