Tag: 3. März 2023

Nachtträume

Aus dem noch ungeschriebenen Roman:

… Erst als sie die Klinke drückt, entdeckt er die Tür. Sie ist nur über eine feine Schattenfuge aus der Wand geschnitten, gestrichen im selben warmen Leinenton wie das ganze Loft. Hier also wohnt sie, denkt er unvermittelt, versteckt wie die Geheimfächer in den Biedermeiersekretären. Hinter dem offenen Raum, der die Küche, das Ensemble aus dem nachtblauen Sofa und den beiden sonnenblumengelben Sesseln, Essen und Arbeiten, ja selbst den Eingang über seine kunstvoll konstruierten Stahlträger auf zwei leicht versetzten Ebenen gliedert, verbirgt sich also das Privatleben. Es ist unauffällig geschützt, die Architektur lenkt von ihm ab. Passt, fällt ihm ein. Aber da zensiert er seine Gedanken schon mit der Erinnerung an ihren verwunderten, ja verstörten Ausruf von vorhin: „Du kennst mich doch gar nicht.“ Das saß. Wäre er nicht so überrumpelt gewesen, hätte er wohl geantwortet, dass er das gern änderte. Er ist froh, es nicht so plump gehalten zu haben.
Für ein paar Minuten ist sie verschwunden. An Geräuschen vernimmt er das dumpfe Rauschen von Wasser; es kommt aus der Leitung, die im industrial look auf dem Putz verlegt ist. Und ein Klacken, als öffnete sie das Schloss eines Koffers. Wenig später steht sie vor ihm, strahlt und wiederholt den Satz, mit dem sie aufgestanden war: „Komm, lass uns spielen.“ Sie hat sich ein Saxophon umgehängt, lehnt sich an einen der T-Träger, das rechte Bein kokett angewinkelt und gegen den Schwarzstahl gestellt. Ehe er irgendetwas entgegnen kann, holt sie aus dem Mundstück schon eine in die Nacht fließende Melodie.
„Was ist das?“ Sie hat das Instrument kurz abgesetzt. „Das heißt Night Dreamer. Passend zur Uhrzeit.“ Sie lacht kurz auf. „Eigentlich ist der Anlass ein trauriger. Wayne Shorter ist heute gestorben. Ich habe es vorhin in den Nachrichten gelesen. Du weißt, der mit den Großen des Modern Jazz …“ Er nickt nur, in Wahrheit kennt er nicht viel. „Und als sich über unseren Abend so ein leicht melancholischer Film zu legen begann, da habe ich gemeint, wenn wir spielten … Spielst du vielleicht Klavier?“
Die Frage trifft ihn, zu seiner Überraschung, abgrundtief. Was soll er sagen? Dass er zweimal schon Anlauf genommen hat, zweimal vergeblich aus Mangel an Zeit, vermutlich auch Talent, nachzuholen, was ihn seit der Zeit, in der er seine Jugendliebe entdeckte, quält: all die Gefühle und Sehnsüchte nicht ausdrücken und ausleben zu können, indem er sie in Takt und Ton musikalisch fasst – soll er das jetzt erzählen, das Versagen im Pianounterricht? Er klimpert manchmal zuhause, nicht selten aus Langweile, auf seinem uralten Grotrian-Steinweg, der Schelllack blättert schon ab. Aber spielen?
„Ich kann leider nicht“, sagt er verlegen.
„Hey, was ist mit dir plötzlich?“ Sie legt das Saxophon auf den Tisch. Die Idee, damit die Stimmung aufzuheitern, ist offenkundig gründlich misslungen. Aus seinem linken Auge löst sich kaum merklich eine kleine Träne und sucht langsam ihre Bahn über die äußere Wange. Sie beugt sich über ihn, zieht ihn in ihre Arme. „Sag, habe ich was falsch gemacht?“ Er ringt um Fassung und um Worte. „Nein. Es ist nur …“ Sie schaut ihn an, wie sie ihm noch nie ins Gesicht geblickt hat. „Da ist gerade durch dein Spielen und deine Frage in mir etwas aufgebrochen, das ich wohl sehr gut verborgen gehalten habe, auch vor mir selbst.“ …