Monat: Februar 2023

Lass uns verhandeln

Noch jede Verhandlung, die einen Kampf beenden soll, bedarf des Restvertrauens in eine, und sei es geringste, gute Absicht des Gegenübers. Wer nicht mindestens die Zuversicht hat, dass ein mögliches Ergebnis belastbar anerkannt wird, so dass dessen Verbindlichkeit nicht wieder mit Gewalt durchgesetzt werden muss, braucht mit Gesprächen gar nicht erst zu beginnen. Die Grundfrage jeder zielgerichteten Unterredung lautet: Glaubst du, dass der andere sich an sein Wort halten wird? Darüber kann nicht diskutiert werden.

Aufstand gegen die Gutmütigkeit

Carl von Clausewitz kommentiert die Berliner Demonstration „Aufstand für den Frieden“:
„Nun könnten menschenfreundliche Seelen sich leicht denken, es gebe ein künstliches Entwaffnen oder Niederwerfen des Gegners, ohne zuviel Wunden zu verursachen, und das sei die wahre Tendenz der Kriegskunst. Wie gut sich das auch ausnimmt, so muss man doch diesen Irrtum zerstören, denn in so gefährlichen Dingen, wie der Krieg eins ist, sind die Irrtümer, welche aus Gutmütigkeit entstehen, gerade die schlimmsten … So muss man die Sache ansehen, und es ist ein unnützes, selbst verkehrtes Bestreben, aus Widerwillen gegen das rohe Element, die Natur desselben außer acht zu lassen.“*

* Vom Kriege, 192

Das Problem mit der Lösung

Es ist das größte Missverständnis jeder Art von Beratung, dass sie einfach Lösungen anzubieten vermag, wo Probleme quälen. In Wahrheit müssten Besteller wie Anbieter wissen, wie sehr einem intelligenten Denken die Vorstellung widerstrebt, je fertig sein zu können dadurch, dass es eine Antwort gefunden zu haben glaubt. Beratung, Therapie, Mentoring, sie entwickeln ihren Sinn vollkommen immer dann, wenn sie verstanden sind als Begleiter einer Lösung, die sich als Problem herausgestellt hat. Weil es das größte Missverständnis von Lösungen ist zu meinen, dass sie von Problemen befreien.

Opfer und Täter

Nie ist der Mensch Treibender und Getriebener zugleich wie in den Momenten, da er liebt. Aktiv in seinen Passionen und passiv in seinen Aktionen lässt er zu, was ihn längst überwältigt hat, und schüttet sein Herz aus, wo es schon übergeflossen ist. Die weinerliche Entschuldigung „Ich kann doch nichts dafür“ wechselt in die übermütige Stimmung weitspringender Entschlossenheit: „Doch, dafür mach’ ich alles.“ In dieser tiefen Zerrissenheit erlebt der Mensch sich ganz mit sich und seiner Welt versöhnt.

Denk dir nichts bei

Anfang: ein Satz, der so gesagt ist, dass er zu denken immer mehr erlaubt.
Ende: ein Satz, der so gesagt ist, dass man sich nichts weiter denken traut.

Das heimliche Wir

Man unterschätze nicht die Sinnlichkeit bloßer Sätze. Jedes Wort, das man miteinander austauscht, berührt die Seele, wie eine Hand die Haut berührt, im Druck kräftig, im Streicheln fast tangential, zum rechten Zeitpunkt oder an der falschen Stelle, verletzend oder heilend. So auch die Rede, die trifft und trennt, verändert oder verhallt. Immer aber hat sie das heimliche Wir mit ausgesprochen, das neben die Behauptung und Bezeichnung „Ich sage“ stillschweigend die Aufforderung stellt: Nimm mich beim Wort!

Praktizierte Klugheit

Zu jedem souveränen Umgang mit den Ansprüchen und Erfordernissen der Welt gehört ein Quantum Weltfremdheit. Sie hat nichts von Verträumtheit oder gar der Untüchtigkeit in den Alltagsdingen des Lebens. Im Gegenteil, als Wille, zu diesen gelegentlich Distanz aufzunehmen, ist sie eine Bedingung, sich ihnen intensiv widmen zu können. Heute beginnt die Fastenzeit. Man könnte das Fasten, wenn man es nicht verniedlicht zum Verzicht auf Alkohol oder Süßem, als eine Form praktizierter Klugheit verstehen, des Bewusstseins, dass Nähe eine befreiende Funktion des Abstands ist.

Wahnsinn

Zu jedem Wahnsinn, der die Welt schockt, gehört ein Publikum, das die abgrundtiefe Torheit eines Einzelnen durch seinen geistes- und herzensblinden Applaus erst machtvoll aufbläht. Die Personalisierung des Schreckens in Wendungen wie „Putins Krieg“ oder „Trumpismus“ unterschlägt die Resonanz, die eine Idiotie zum gefährlichen Irrsinn verstärkt.

Radikal

Eine Lesefrucht. Der Text ist geschrieben worden vor knapp hundert Jahren:
„Dem Radikalen heißt Leben und schlechtes Gewissen haben, Dasein und Verrat am Geiste ein und dasselbe. Seine Haltung wird von einem dauernden Insuffizienzbewusstsein getragen, so dass er es durch Überbetonung der Geistigkeit, durch Verabsolutierung seiner Ziele, durch Überspannung seines Willens zu kompensieren sucht. Radikal sein bedeutet Moralismus der Leistung, Misstrauen gegen Freude und Genuss, Verachtung des Scheins, des Leichten, alles dessen, was von selbst geht, Verehrung der Schwierigkeit und nur zu williges Bejahen der Bitterkeiten, die aus der Inkongruenz unseres Willens mit der Welt hervorgehen. Für den Radikalen gibt es nur ein Gesetz: Gründlichkeit.“*

* Helmuth Plessner, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus (1924), Gesammelte Schriften V, 15

Haben und Sein

Der kleingeistige Wunsch des Lebens: Haben.
Der großspurige Wunsch des Lebens: Sein.

Was ich noch sagen wollte

In Gesprächen, in denen das Ungesagte die eigentliche Botschaft ist, darf das Ausgesprochene nicht nichtssagend sein.

Unter den Teppich gekehrt

Mit der Erfindung des Unbewussten hat sich die Vernunft kein Gegenbild geschaffen zum Bewusstsein. Sondern nur den Namen genannt, der alles umfasst, was dafür sorgen soll, dass das Bewusstsein auch dann funktionstüchtig bleibt, wenn es sich selbst gefährdet. Es ist die Bedingung seiner Möglichkeit. Das Unbewusste gehorcht dem Ordnungsprinzip einer realitätsverpflichteten Rationalität, wie der sprichwörtliche Teppich alles verdeckt, was unter ihn gekehrt ist, damit die Wohnung als ganze einladend strahlen kann.

Gesichtsmaske

Es stimmt, was immer gesagt wird, dass das Gesicht ein Spiegel der Seele ist. Eignet es sich doch bestens als Projektionsfläche für die Sorgen und Wünsche der anderen, die herauslesen, was sie hineingedacht haben.

Die Armut der Banken

Die meisten, die einem Vermögensbildung ans Herz legen, wissen nichts vom Vermögen der (Herzens-)Bildung.

In bester Absicht

Auch für das verdienstvollste Verhalten findet sich immer noch ein niederes Motiv, das es bestens erklärt.

Helfersyndrom

„Unglaublich, was Sie alles schaffen. Aber Sie müssen sich auch gelegentlich um sich selbst kümmern.“
Die Antwort kommt prompt, so ehrlich wie trostlos: „Das würde ich gern. Aber da ist keiner mehr.“

Was in der Grammatik fehlt

Man müsste den drei Aussageformen Indikativ, Konjunktiv und Imperativ noch die beiden grammatikalischen Modi Kontemplativ und Provokativ hinzufügen können. Sie erweiterten den Beschreibungsradius von Handlungen um die Felder des Nichtstuns und Allesforderns.

Gerade so verdächtig

Der vorsichtig formulierte, juristische Terminus Anfangsverdacht, der staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverpflichtungen nach sich zieht, ist bei genügend öffentlichem Interesse nicht selten verantwortlich für manchen biographischen Knacks und sorgt für das Urteil weit vor einem längst ausgemachten Schuldspruch. Das rechtsstaatliche Regulativ der Unschuldsvermutung wirkt da, eigens mitgenannt, schnell wie gesellschaftlicher Hohn, der gerade noch die Form wahrt.

Die Geschicht’ von der Moral

Man kann bei jedem machtvollen Moralprinzip fragen, welche Art von Angst sich zu einem solch festen Aggregatzustand hat pressen lassen. Es kommt nicht selten vor, dass dort, wo Dünkel und Anstand eine unselige Verbindung eingegangen sind, Zwangscharaktere geboren werden.

Abwehrmechanismus

Eine Liebe, gegen die man sich nicht gewehrt hat, ist keine Liebe.

Varianten von Wahrheit

Wahrheit in der Logik: was zwingend aus den Voraussetzungen folgt.
Wahrheit in der Politik: was nicht dementiert werden muss.
Wahrheit in der Medizin: was die Heilung fördert.
Wahrheit in der Religion: was Wege öffnet, die Leben verheißen.
Wahrheit in der Geschichte: was so nie stattgefunden hat, aber nicht bezweifelt wird.
Wahrheit in der Literatur: was in Frage zu stellen ist.
Wahrheit im Recht: was aufgeklärt und bewiesen werden muss.
Wahrheit in der Philosophie: der Begriff, ohne den sie nicht denken könnte.
Wahrheit in der Kunst: alles jenseits des Schönen.
Wahrheit im Leben: die Zumutung, an der es sich aufrichtet.

Schöne Eitelkeit

Nie ist Eitelkeit so schön wie im hohen Alter.

Tonspur

Erfolgreich kommunizieren: nach unten stets als Chef sprechen, nach oben wie der Chef reden.

Wendezeit

Was so harmlos beschwörend „Zeitenwende“ genannt wird, als ließe sich wie bei einer Wendejacke der Stoff einfach von links nach rechts drehen, sobald die Außenseite zu viele Gebrauchspuren aufweist, ist in Wahrheit jedesmal die brutalste Phase im Gang der Geschichte. Denn bevor die Zeit sich wendet, wendet sie sich erst einmal gegen die, die mit der Zeit gehen. Übergang, Transformation, das sind die schönfärberischen Bezeichnungen für einen welthistorischen Abschnitt, der nicht ohne Niederlagen und Untergänge, Aufkündigung oder Demontage sich vollzieht. Es kommt zu Brüchen. Und über Brüche gelangt man nur durch einen beherzten, weil riskanten Sprung*.

* Der marxistische Philosoph Georg Lukács hat noch vor Heidegger im Jahr 1911 sich intensiv mit der Radikalität des Existenzdenkens befasst: „Kierkegaard sagte einmal, die Wirklichkeit stehe in keinem Zusammenhang mit den Möglichkeiten, und trotzdem baute er sein ganzes Leben auf einer Geste auf … Die Geste ist der Sprung, mit dem die Seele aus dem einen in das andere gelangt, der Sprung mit dem sie die immer relativen Tatsachen der Wirklichkeit verlässt, um die ewige Gewissheit der Formen zu erreichen. Die Geste ist mit einem Wort jener einzige Sprung, mit dem das Absolute sich im Leben zum Möglichen verwandelt.“ – Die Seele und die Formen. Essays, 63ff.