Kategorie: Allgemein

Arbeit am Mythos

„Im Gegensatz zu aller Geschichte, in der die Epochen sich mit dem Bewusstsein ablösen, jetzt endlich würde es ernst, nach so viel Leichtfertigkeit im Vertun der besten Möglichkeiten des Menschen ginge es jetzt und endlich ums Ganze, ist jeder Schritt der Arbeit am Mythos Abtragung des alten Ernstes – selbst die Kunstmythen vom Ende der Kunst oder vom Tode Gottes sind so gemacht. Was nach solchem Ende und Tod kommt, verspricht der Mythos nicht mehr. Überlässt er es den Philosophen, die darauf vertrauen, erst dann würde ihnen schon etwas Besseres einfallen?“*

*Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, 685

Restauration der Symbolfigur Atlas am Frankfurter Hauptbahnhof

Restauration der Symbolfigur Atlas am Frankfurter Hauptbahnhof

Abpfiff

Wenig ist schwerer, als den richtigen Augenblick für den Abschied zu finden. Meist kommt er zur Unzeit. Wann soll einer gehen? Wenn es am schönsten ist, lehrt die Volksweisheit und unterschlägt, dass sich das immer nur im Rückblick sagen lässt. Ohne fahlen Beigeschmack lässt sich ein Ende nicht setzen: Es ist stets zu früh oder zu spät gewählt. Die Zurückgebliebenen übernehmen es, darüber zu entscheiden, und revanchieren sich so für das implizite Urteil, das jeder fällt, der geht, über jene, die weitermachen.

Restposten

Zur Zeit im Sonderangebot: Fans, die noch immer nicht aus dem Weltmeisterschaftsrausch erwacht sind

Tote Hose in der Damenabteilung

Tote Hose in der Damenabteilung

Nimm’s nicht persönlich

Nichts ist so verletzend wie eine Sachlichkeit, die nur noch sachlich sein will.

Was bisher geschah

„Geschichte ist die Summe der Lügen der Sieger.“ So bestimmt es Tony Webster, der Protagonist in dem Roman „Vom Ende einer Geschichte“. Julian Barnes, der Autor jener Novelle über die Zerstörung von Identität durch Wahrheit, zögert nicht, der Definition des Schülers einen Ergänzungssatz beizulegen. Geschichte sei allerdings auch immer die Selbsttäuschung der Besiegten, lässt er den Lehrer erwidern. Die Verfälschungstendenz, mit der wir unsere Vergangenheit verklären, reicht so weit, dass selbst die Siege und Niederlagen bei genauerem Hinsehen niemals nur Erfolge gewesen sind oder ein nüchternes Scheitern darstellen. Noch in der Stunde, da sich Entscheidendes ereignet, beginnen wir mit der Mythenbildung. (Es wäre interessant, mit scharfem historisch-kritischen Blick herauszubekommen, ob der ausgewechselte Stürmer Klose seinem Ersatz Götze wirklich zugerufen hat, dass dieser den erlösenden Treffer im Finale erzielen werde. Und ob Joachim Löw seinem „Wunderkind“ tatsächlich in der Halbzeit der Verlängerung, als er ihn ins Kinn zwickte, den Stürmer aufgeforderte hatte, der Welt zu zeigen, er sei besser als Messi. Was dieser dann ja auch in einem glücklichen Augenblick gehorsam tat.) Es sind die Erzählungen, weniger die Ereignisse, die unser Selbstverständnis prägen. Wer wir sind, hängt nicht so sehr an der Frage, ob etwas wirklich ist, als an der Akzeptanz dessen, was hätte wirklich sein können. „Nicht möglich“, rufen wir manchmal voller Erstaunen aus. Als Urteil über eine Geschichte gesprochen, ist es die Vernichtung dessen, der darin sein Selbstbild artikulieren wollte.

Helden

Held ist das, was wir nicht sind. So hat Jacob Burckhardt, in einer Abwandlung auf die historische Größe, ein Individuum gekennzeichnet, das aus dem gewohnten Gang der Geschichte herausragt. Die Bestimmung kennzeichnet nicht nur den Unterschied zu uns Normalsterblichen. Sondern sie markiert vor allem, dass man zum Helden nicht geboren werden kann – anders als die heroenbevölkerte Antike es sich vorstellte. Der Held entsteht immer erst in einer riskanten Situation. Diese gemeistert zu haben, für sich und andere, erhebt ihn über das Maß des Durchschnitts. Dennoch sind es weniger Talent und Geschick, durch die er brenzlige Lagen bewältigt, als vielmehr ein untrügliches wie höchst seltenes Gespür für die Verschmelzung von Gefahr und Geheimnis. Lächerlich sind daher Auszeichnungen wie die zum „Helden der Arbeit“ in der sozialistischen Diktatur des Proletariats. Die unfreiwillige Komik eines Personenkults als Massenphänomen in einem System, das alles Individuelle brutal verachtet, zeigt das unerschütterte Bedürfnis nach der Sage, das selbst unter heldenwidrigen Bedingungen belegt, dass wir ganz und gar nicht in einem postheroischen und somit mythenfreien Zeitalter leben. Im Gegenteil: Die große Erzählung sucht sich nur andere Stoffe. Denn ohne sie und ihre Helden wüssten wir nicht, dass das, was wir nicht sind, uns doch möglich ist.

Der große Wurf

“Solang du Selbstgeworfnes fängst, ist alles
Geschicklichkeit und läßlicher Gewinn –;
erst wenn du plötzlich Fänger wirst des Balles,
den eine ewige Mit-Spielerin
dir zuwarf, deiner Mitte, in genau
gekonntem Schwung, in einem jener Bögen
aus Gottes großem Brücken-Bau:
erst dann ist Fangen-Können ein Vermögen, –
nicht deines, einer Welt. Und wenn du gar
zurückzuwerfen Kraft und Mut besäßest,
nein, wunderbarer: Mut und Kraft vergäßest
und schon geworfen hättest … (wie das Jahr
die Vögel wirft, die Wandervogelschwärme,
die eine ältre einer jungen Wärme
hinüberschleudert über Meere –) erst
in diesem Wagnis spielst du gültig mit.“ *

* Rainer Maria Rilke, Die Gedichte 1922 bis 1926 (Muzot, 31. Januar 1922)

Finale Vorfreude

Freu dich nicht zu früh, so lautet die Warnung an jene, die sich allzu leicht begeistern lassen. Eine gehörige Portion Nüchternheit kann der Freude nicht schaden. Aber nutzt es ihr? Die kleine Unterscheidung mag das belegen: Zwischen der Freude und der Vorfreude steht nicht nur die Zeit, die bestimmt, dass die eine folgt, wo die andere vorausgegangen ist. Von hier nach dort geschieht vielmehr der entscheidende Zuwachs an Realität, der dafür sorgt, dass eine Verwandlung eintritt. Die Vorfreude blendet mögliche Enttäuschungen aus. Das ist der Grund für die gebotene Vorsicht, die weiß, dass sich Höchstwahrscheinliches in seinem modalen Aggregatzustand noch verändern kann in eine Unmöglichkeit. Es gehört zur Freude die leichte Tendenz, an sich selbst sich zu genügen, die Sache, um die es geht, außer Acht zu lassen, sie zu verklären, schönzureden, ihr eigenes Spüren fast als ausreichend zu empfinden. Diese stille Rücksichtslosigkeit gegenüber der Wirklichkeit macht sie anfällig, nicht mehr darauf zu achten, ob zur Feier überhaupt noch Anlass ist. Freude will sich nicht stören lassen, im Gegenteil: Sie ergreift den Augenblick, hält sich auf im reflexionsfreien Raum, genießt die Selbstverständlichkeit. Daher findet sich am ehesten bei sich selbst, wo die Frage nach ihrem Anhalt noch gar nicht recht auftreten kann, in der Phase der Vorfreude.

Alles für diesen einen Moment

Als die Fußball-Weltmeisterschaft im Jahr 1978 zum ersten Mal in Argentinien stattfand, hatte der berühmteste Dichter des Lands, der dunkle Jorge Luis Borges, exakt zum Zeitpunkt des Anpfiffs im Eröffnungsspiel, da die argentinische Mannschaft zu spielen begann, eine Konferenz über die Unsterblichkeit angesetzt. Der Mann hatte ein Gespür für unmögliche Situationen und liebte das Spiel mit der Paradoxie. „Unsterblich zu sein ist nichts Besonderes“, hatte er zuvor behauptet. „Vom Menschen abgesehen, sind es alle Geschöpfe, da sie den Tod nicht kennen.“* Tiere verenden, nur Menschen sterben, so der Gedanke. Und wie bei vielen Überlegungen von schillernder Logik lässt sich auch hier der andere, kaum weniger plausible Satz sagen: Der Wunsch, unsterblich zu werden, kann nur dem Menschen kommen, weil er sterben muss. Was weniger ein Nicht-Wissen ausdrückt als das Bewusstsein und den Willen, in einem einzigen Augenblick etwas für alle Ewigkeit tun zu können. Und man braucht morgen zum Abpfiff des Finales der Fußball-Weltmeisterschaft keine Konferenz, um zu verstehen, dass es etwas Besonderes ist, unsterblich zu sein.

*Jorge Luis Borges, Der Unsterbliche, in: Ders., Sämtliche Erzählungen, München 1970, 17.

Der neue Fluch

Fortsetzung der Geschichte (siehe hier) von Christoph Niemann: Ein neuer böser Geist spukt seit dem verlorenen Halbfinale gegen Deutschland in Brasilien.

Bitte auf das Bild klicken

Illustration Christoph Niemann

Illustration Christoph Niemann

Vortrag

Warum lässt sich nicht, wie bei der Steuer der Verlustvortrag, im Fußball ein Gewinnvortrag anrechnen? Deutschland könnte den Titel schon feiern.

Sieben auf einen Streich

Kann man erklären, was man nicht versteht? Muss man verstehen, was man nicht erklären kann? Der deutsche Trainer sagt, dass der Gegner Brasilien im Vorhinein genau analysiert worden sei, und versucht so eine Erklärung. Ob er das Ergebnis auch versteht? Die Unterscheidung zwischen Erklären und Verstehen stammt aus der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Mit ihr sollte der Streit zwischen den Methoden der Naturwissenschaften und denen der Geisteswissenschaften befriedet und deren je anderer Weltzugang auf den Begriff gebracht werden. Es ist eine unglückliche Differenz, die nie so recht passen wollte. Schon bei Max Weber findet sich der Abstand zwischen beiden Kategorien wieder eingeholt. Er kennt das erklärende Verstehen: „‚Erklären‘ bedeutet also für eine mit dem Sinn des Handelns befasste Wissenschaft soviel wie: Erfassung des Sinnzusammenhangs, in den, seinem subjektiv gemeinten Sinn nach, ein aktuell verständliches Handeln hineingehört.“* Diese Dimension hat die Spieler unmittelbar nach dem historischen Halbfinalsieg naturgemäß überfordert. Aber es herrschte dennoch eine Ahnung vor, dass ein 7:1 gegen den großen Gastgeber mehr ist als nur ein Ergebnis, das den Einzug ins Endspiel bedeutet. Da war Sensibilität verlangt, bei jedem Wort der Interpretation. Es war dem deutschen Mannschaftskapitän vorbehalten, den richtigen Ton zu treffen. Mitleid, sagte er, sei im Fußball fehl am Platz. Aber Mitgefühl empfänden er und das ganze Team. Und er fand damit genau jene Haltung, die einfach versteht, ohne dass auch nur einer etwas erklären müsste.

*Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Erster Teil, I, § 1, I.5

Pixel-Comic

… von Emmanuel Espinasse.

(Zum Starten, und dann in der Folge, auf das Bild klicken.)

Emmanuel Espinasse

Mensch und Maschine

Der leitende Mitarbeiter eines Herstellers von Edelrasierern gibt sich gelassen. Angesichts der verstärkten Fernsehwerbung der Konkurrenz zur besten Fußball-Sendezeit sagt er nur: „Unter allen Entscheidungen, die Männer in ihrem Leben treffen, ist die für ein Schersystem die einschneidendste. Ob schwingende Messer oder rotierende, der Bartwuchs gewöhnt sich an eine Methode, so dass die andere nicht mehr funktioniert. Nirgendwo sind Männer treuer als bei der Wahl ihres Elektrorasierers.“

Erfolgsgeheimnis

Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht. Wer mehrmals lügt, der hat Erfolg. – Viele moralische Gebote reflektieren genau, wie gut sich das Leben meistern lässt, wenn man sich den Anstandsregeln nicht sklavisch unterwirft, und sind als Hemmschwelle eingesetzt, damit nicht allzu viele von dieser Erfahrung profitieren.

Lass dich los

Wie ein Mantra wiederholt der Trainer täglich, man sei konzentriert und fokussiert und er selber auch noch tiefenentspannt. Joachim Löw gibt kundig den Meditationslehrer der Nation. Und wenn wir aus der Trance erwacht sind, ist Deutschland Weltmeister.

Traurige Freiheit

Es gibt Frage-Menschen und Antwort-Menschen. Sie unterscheiden sich in dem, was sie noch wollen. Die einen trachten danach, stets Neues zu erfahren, stürzen sich in Situationen, deren Ausgang ungewiss ist, sind darauf bedacht zu lernen, zu forschen, zu vertiefen. Den anderen ist wichtig, was sie erreicht haben. Das schützen sie. Sie schauen auf Ergebnisse, sichern sich ab, erwarten die pünktliche Lieferung des Versprochenen. Nirgends wird diese Differenz deutlicher als im Verständnis von Reichtum. Und nirgends wird klarer, dass sich beide Haltungen fast vollständig ausschließen. Wer sich reich dünkt, weil er viel besitzt, muss in kauf nehmen, dass er arm bleibt, weil er nur wenig begehrt. „Ich habe aufgehört zu arbeiten“, sagte ein sehr vermögender Mittvierziger in die Runde. Er wurde von den anderen, die noch täglich ins Büro fahren, nicht beneidet.

Die gelbe Gefahr

Schon immer sind Netze erfunden worden, um etwas zu fangen. Was durch die Zwischenräume leicht Einlass gefunden hat, bleibt beim versuchten Ausgang in den Knoten hängen. Das gilt für das Spinnennetz, das Fischernetz und, nicht zuletzt, soziale Netze: Sie nehmen die Freiheit mit dem Versprechen der Freiheit.

Krabbenspinne beim Nachtmahl

Krabbenspinne beim Nachtmahl

Rechtsmittel

Von der kunstvoll formulierten Definition des römischen Juristen Domitius Ulpianus ist nur ein kümmerlicher pragmatischer Rest übrig geblieben. Der Prätorianerpräfekt, der später in den Kanon der bei wichtigen Entscheidungen maßgeblichen Rechtsgelehrten aufgenommen wurde, bestimmte einst: „Gerechtigkeit ist der feste und dauernde Wille, jedem sein Recht zuzuteilen“. Die Gerechtigkeit galt als das regulative Ideal des Rechts. Davon ist in einer Welt, welche die Gerichte mit einem Übermaß an Klagen beschäftigt und in eine kaum zu bewältigende Zahl von Prozessen zwingt, immer weniger zu sehen. Es ist schon viel, wenn es dem Richter gelungen ist, die Schriftsätze vollständig zu lesen. In den übrigen Fällen ergeht ein Urteil in der Regel aus der Verlegenheit, überfordert zu sein. Die sorgt für ein Recht, das sich nicht mehr an der Gerechtigkeit orientiert. Der Richtspruch ist vor allem der glückliche Moment für das Gericht, die Streitsache wieder los zu sein.

Nichts Ernstes

„Sehr gern“, antwortet der Kellner im Zug auf die Ablehnung seines Kaffeeangebots routiniert. Die gewohnte Floskel ernstgenommen bedeutete, dass er es über die Maßen schätzt, nicht bedienen zu müssen. Wenn das Nichts einen Namen hätte, hieße es Marketing.

Gerade noch gut gegangen

Der Pfarrer predigt vom Paradies und erklärt mit düsterer Miene, dass wir dahin nie mehr zurückkommen können. Ob dieser Perspektive macht sich in den Kirchenbänken sichtbar Erleichterung breit.

Alles, was wir brauchen

Eric Idles Parodie auf die Beatles: „The Rutles – All I need is Cash“. Monty Python at its best.

https://www.youtube.com/watch?v=12HtqVUcQnM

 

Inhaltsleer

Ein Ritual lebt davon, dass nicht immer nach seiner Bedeutung gefragt werden muss. Es stirbt, wenn danach gar nicht mehr gefragt wird.

Was nun kommt

Die deutschen Bezeichnungen Achtelfinale, Viertelfinale, Halbfinale suggerieren, dass jene Mannschaft, die sich durch drei Siege fürs Endspiel qualifiziert hat, nur noch summa summarum ein Achtel des Finales gewinnen muss, um alles für sich erlangt zu haben. Als ob im Halbfinale schon die Hälfte des Finales entschieden würde. Da ist die englische Bezeichnung last sixteen klarer und kämpferischer. Sie nennt die Zahl derer, die sich bis zum Titel im Weg stehen und macht erkennbar, was aus ihm noch zu räumen sein wird.