Kategorie: Allgemein

Lass mal

In einer Zeit, in der die Kontrollroutinen – von der Überregulierung bis zur Überwachung – Überhand genommen haben, befreit wiedergewonnenes Vertrauen vom Handeln. Und erfüllt so seine Funktion: die, zum Handeln zu befreien, indem es das Lassen als die höhere Form des Tuns entdeckt.

Tücken der Tugend

Schon immer hat der unmäßige Wunsch, die Welt möge rein sein – frei von versteckten Motiven, Gesprächshinterhalten, politischen Ränkespielen, Machtgesten – die Heuchelei am stärksten gefördert. Jede Anstrengung, das so erhoffte Authentische zu repräsentieren und von anderen einzufordern, muss sich bei gebotener Ehrlichkeit ertappen lassen, die eigene Korrumpiertheit nicht einzugestehen. Der moralische Rigorist ist der beste Freund des Unmoralischen.

Wir Heuchler

Quintilian, der große Sprecherzieher, konnte noch behaupten: „Philosophie kann man nämlich heucheln, Beredsamkeit nicht.“ (Ausbildung des Redners XII 3, 12). Heute hat sich gesellschaftlich weder das scharfe Denken durchgesetzt noch die öffentliche Sprachkunst. Aber geheuchelt wird überall. Und das vor allem gedankenarm und wortreich.

Kein Wort zuviel

Nichts ist dem Autor näher als sein eigenes Werk. Warum sollte er auch sonst schreiben, wenn er sich nicht in seinen Sätzen begegnete? Im Gespräch zwischen dem Verleger und dem Schriftsteller geht es immer um Persönliches, gerade dann, wenn es sich um die gemeinsame Sache dreht: das Buch.

Harter Junge

Er vergießt keine einzige Träne. Er verdrängt. Das ist seine Art zu weinen.

Shelfie: the new selfie?

„Wann wir lesen, denkt ein Anderer für uns: wir wiederholen bloß seinen mentalen Prozeß.“ – Arthur Schopenhauer, Parerga und Paralipomena II, Kap. 24, § 291.
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Dreiecksgeschichte

Sie führt eine ♀♂♂ene Beziehung.

Der Rat des Erasmus

Morgenstund‘ hat Gold im Mund.* Aber nur für die Ausgeschlafenen.

* Erstmals ist das als volksmundartliche Lebensweisheit umlaufende Wort im 56. Brief des Erasmus von Rotterdam verzeichnet, dort noch in der lateinischen Fassung: aurora musis amica – die Morgenröte ist eine Freundin der Musen. Die Epistel ging an den jungen Lübecker Kaufmann Christian Northoff. Für solche schriftlichen Unterweisungen erwartete der Humanist Erasmus ein angemessenes  Honorar; guter Rat war damals noch teuer. Es lohnte also, genau zu lesen und zu verstehen, dass der Satz kein Weckruf an die Langschläfer gewesen ist, sondern eine Aufforderung, die Nachtruhe so einzurichten, dass man sich mit dem Sonnenaufgang schon auf der Höhe seiner eigenen Geisteskräfte befindet.

Tag der Ideen

In seinem Traktat „Das Recht auf Faulheit“ erinnert Paul Lafargue, der unterschätzte Schwiegersohn von Karl Marx daran, dass es Zeiten gab, in denen Revolutionen angezettelt wurden, nicht weil man die Arbeit verloren hatte, sondern um sie zu verlieren: „Als Brutus der Ältere das Volk aufwiegeln wollte, warf er Tarquinius dem Tyrannen vor allem vor, dass er freie Bürger zu Handwerkern und Maurern gemacht habe. Die alten Philosophen stritten sich um den Ursprung der Ideen, aber sie waren sich einig, wenn es galt, die Arbeit zu verabscheuen.“ Er hätte hinzufügen müssen, dass es überhaupt nur unter diesen Bedingungen möglich ist, sich um Ideen zu streiten und diese Art von Muße alles andere ist als müßig. Die Linken von heute propagieren einen Feiertag 1. Mai, der schon deswegen nicht mehr „Tag der Arbeit“ genannt zu werden verdiente, weil sich Menschen nicht mehr über die Arbeit definieren, sondern „für vergnüglichere Dinge“ demonstrierten. Idealist, wer folgert, man sollte künftig einen „Tag der Ideen“ begehen.

Unlösbare Aufgabe

Das anthropologische Axiom: Wer mit dem Menschen rechnet, darf nicht auf ihn zählen.

Zwei Unterschiede

Manchen ist zu kompliziert, Komplexes zu verstehen. Dabei könnte es höchst effektiv sein, wenn man es nur effizient angeht.

Hat es geschmeckt?

Im „Stummen Diener“, der als Kleinmöbel so manches Schlafzimmer bevölkert, hat sich der Inbegriff zuvorkommender Konzentration einen präzisen Namen gegeben. Ein Service ist erst dann vollkommen, wenn er lautlos geschieht. Nichts störender als die beflissene Frage: „Haben Sie schon gewählt?“ Sie unterbricht das lebhafte Tischgespräch im Restaurant, zerschneidet Gesprächsfäden willkürlich und raubt dem Bemühen um heitere Themen den gelassenen Ernst, indem sie das Augenmerk aller auf die wohlformulierte Tageskarte zwingt. Man fängt von vorn an, bis kurze Zeit später der „Gruß aus der Küche“ zur nächsten Pause nötigt. Spätestens die wiederholt und auffordernd gesetzte Bemerkung „Schmeckt es?“ lässt keinen Zweifel daran, wer in diesem Haus der Herr ist, dem die gesammelte Aufmerksamkeit gebührt.

Des Frommen Wille ist sein Himmelreich

Das Verfahren ist in Wirtschaft und Politik bestens erprobt: Wenn eine Sache nicht befördert werden kann, ändert man einfach die Regeln und schafft die lästigen Hindernisse ab. Der vormalige Papst Johannes Paul II., seit heute ein offiziell anerkannter Heiliger, hatte nicht anders gehandelt. Unter ihm wurden im Jahr 1983 die Bedingungen für eine Kanonisierung erheblich erleichtert. Statt der üblichen vier Wunder musste künftig nur noch eines nachgewiesen werden im kirchenrechtlichen Prozess der Heiligsprechung. Solch ein Mirakel lässt sich immer finden, wenn der Volkswille es darauf ankommen lässt. Dieser hat nun nicht gezögert, dem früheren römischen Bischof für dessen Entgegenkommen zu danken. Schon kurz nach dem Tod von Johannes Paul II. wurde gefordert, ihn in die katholische Ahnengalerie zu erheben. So wurde der polnische Papst zwar der vornehmste Profiteur seiner Verfahrensänderung. Aber der eigentliche Gewinner dieser Regelwandlung ist die Weltgemeinde, die staunt, wie einfach es geworden ist, fromme Wünsche durch die Ernennung eines neuen Schutzpatrons befriedigt zu bekommen. Sie hat ihre jüngste Machtformel beherzigt: Unser Wille geschehe, wie auf Erden so im Himmel.

Propagandakrieg

Jede Lüge ist absolut. Sie duldet neben sich keine andere Überzeugung. Das macht sie stark im Zweikampf mit Wahrheit und zum sprachlichen Bündnisgenossen totalitärer Systeme. In Propagandareden, einst neutral verstanden als Ausbreitung irgendwelcher Ansichten, übernimmt die Lüge die Aufgabe, das Bewusstseins zu kolonialisieren. Der wirkliche Einmarsch bewaffneter Truppen in ein fremdes Gebiet wird durch die vorgeschickte Besatzungsmacht der Manipulation erleichtert. Die Entwaffnung des Gegners beginnt im Kopf. Der Nachteil von Wahrheit ist nicht nur, dass sie stets zu komplex ist für handstreichartige Aktionen. Ihr fehlt auch die nötige Dreistigkeit.

Wer malt abstrakt?

Mal wieder im Museum. Verblüfft die Jahreszahlen gelesen, die neben der Bilderklärung stehen. Die Zeit, in der die farbkräftigen Landschaften und Naturbilder entstanden sind: mitten in den zerstörerischen Wirren des „Dritten Reichs“. Als hätte der Maler Nolde, der sich den nationalsozialistischen Gewaltherrschern sogleich anbiederte und dennoch zu seiner großen Verwunderung sich im Zentrum der Propagandaausstellung „Entartete Kunst“  wiederfand, nichts vom allgegenwärtigen Unheil gespürt. Auch das ist abstrakte Kunst, selbst wenn die Motive fest am Gegenständlichen hängen.

Wo kein Auge zugedrückt wird

The city that never sleeps. Wie heißt jene Stadt, die niemals schläft? Ehedem hätte man ohne Zögern geantwortet: New York. Heute fällt einem als Erwiderung nur ein: überwacht.

Was Leiden schafft

Die wilden Phantasien der Eifersucht enden meist im Gewöhnlichen.

Kurze Pathologie des Hirns

Hysterie: die Krankheit des Begeisterten. Der Entflammte wird zum Entzündeten. Während der Begeisterte von sich weg drängt und andere für die Sache zu gewinnen sucht, die ihn erregt, will der Hysterische alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen, da ihm nichts anderes wichtig ist als das Eigene.

Auferstehung

Glauben heißt, aus Liebe die Hoffnung nicht aufzugeben.

Traurige Ostern

Foto Perspective Pictures

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Ich oder Es

Man glaubt gar nicht, wie ichbezogen Menschen sind, die Schwierigkeiten haben, „Ich“ zu sagen. Stattdessen verlegen sie sich auf Formeln wie „Ich spüre es in mir“ oder „Es drängt mich“, mit denen sie aber nichts anderes bezwecken, als ihren Egoismus ungehemmt durchzubringen.

Schweigen

Wenn Stummheit sich in Stille wandelt, hat sich ein Wort heilsam dazugesellt.

Aushalten können

Wenn der Realismus einer Geschichte Menschen an Grenzen führt, so dass kaum auszuhalten ist, was man erfährt, hilft auch Ästhetisierung nicht weiter. Die Theologie hat es mit ungezählten Formen der Verniedlichung, der Volksfrömmigkeit, des Aberglaubens oder der Privatmythologie zu tun: von Luzifers Fall über die Engelslehre, die für jeden erdenklichen Lebenssonderfall sich einen aufmerksam schützenden Begleiter ausgedacht hat, bis zu den wallfahrtsfähigen Wundern unserer Tage. Sie alle sollen die Härte des Erzählten durch sanfte Angleichungen an die Alltagswirklichkeit der Trostbedürftigen abfedern, lassen sich aber aus nichts anderem herleiten als aus frommen Wünschen Interessierter. Das wirkt, bis es in den Tagen der Passion zum Ernstfall kommt: zum Bericht vom gewaltsamen Sterben dessen, der sich als Inbegriff des Lebens vorstellt. Da kippt Ästhetisierung in den Kitsch; und wenn nicht in den Kitsch, dann ins Blasphemische. Beide stellen unterschiedliche Grade der Überforderung dar. Von einem Philosophen, dem großen Hans Blumenberg, muss sich die Theologie auslegen lassen, was Realismus der Passion bedeutet: „Keiner hätte jemals mit diesem Jesus aushalten können, hätte er die Zumutungen verstanden, die in seinen Worten und Forderungen enthalten waren. Man hielt es nur aus mit ihm, wenn man ihn nicht verstand und indem man sich der schönen Täuschung überließ, man habe ihn verstanden und dem Verstandenen genügt.“ (Matthäuspassion, 264)

Bar "Puerta Oscura" in Málaga, unweit der Kathedrale: Ein Ort, an dem sich Wege kreuzen, die unterschiedlicher kaum sein können. Ob sich manchem Gast angesichts der Ausstellung zur Semana Santa am Cocktail verschluckt hat?

Bar „Puerta Oscura“ in Málaga, unweit der Kathedrale: Ein Ort, an dem sich Wege kreuzen, die unterschiedlicher kaum sein können. Ob sich mancher Gast angesichts der Ausstellung zur Semana Santa am Cocktail verschluckt hat?

Sakrale Folklore

In seiner Schrift „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“ zitiert Marx den Vordenker der modernen dialektischen Philosophie: „Hegel bemerkt irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Thatsachen und Personen sich so zu sagen zweimal ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als große Tragödie, das andre Mal als lumpige Farce.“ (MEW 8, 115) Wer die Formen der Liturgie in der Karwoche beobachtet, sieht dieses kluge Wort wiederholt bestätigt. Auch die Passion des Menschensohns ereignet sich in der Feier der Ergriffenen doppelt: als göttliches Drama und als niedliche Folklore.

Süße Buße: Schokolade-Nazarenos zur Semana Santa

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