Kategorie: Allgemein

Hast du Töne

Porsche: Geräusch mit Karosserie.

Resterampe

Vom Helden unterscheidet sich der Heilige dadurch, dass er seine Großtaten meistens im Sterben oder post mortem vollbringt. Das erzwang schon das Martyrium, das einst als Hauptkriterium galt für die Kanonisierung und erst später durch ein Wunder ersetzt werden konnte. Die kalendarische Verehrung der Heiligen – jedem Tag mindestens ein Tugendvorbild – kompensiert den Applaus, den jeder Heroe als schönsten Preis noch zu seinen Lebzeiten genießen kann. Das Fest Allerheiligen entstammt der Verlegenheit, die vielen tausend Schutzpatrone noch unterzubringen, für die kein spezieller Tag mehr frei war. Ihnen und allen anderen ist der 1. November reserviert. Was die Kirche als Termin festgelegt hat für die betende Vollversammlung im Himmel, ist vielleicht nur der Run auf eine fromme Resterampe. Für jedes noch so entlegene Anliegen findet sich hier ein engagierter Fürsprecher.

Reformationstag

„Ruhm dem Luther! Ewiger Ruhm dem teuren Manne, dem wir die Rettung unserer edelsten Güter verdanken, und von dessen Wohltaten wir noch heute leben! … Indem Luther den Satz aussprach, daß man seine Lehre nur durch die Bibel selber, oder durch vernünftige Gründe, widerlegen müsse, war der menschlichen Vernunft das Recht eingeräumt die Bibel zu erklären und sie, die Vernunft, war als oberste Richterin in allen religiösen Streitfragen anerkannt. Dadurch entstand in Deutschland die sogenannte Geistesfreiheit, oder, wie man sie ebenfalls nennt, die Denkfreiheit. Das Denken ward ein Recht und die Befugnisse der Vernunft wurden legitim.“*
* Heinrich Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, 1. Buch

Bemalung am Bauzaun, gegenüber dem Haus des Buches in Frankfurt

Bemalung am Bauzaun, gegenüber dem Haus des Buches in Frankfurt

Klar doch

Die Logik ist eine Krücke, auf die sich jene stützen müssen, die im Leben nicht immer trittsicher vorankommen – also wir alle. Glaube nur keiner, dass es deswegen im Dasein mathematisch zuginge. Robert Musil hat dieser Hoffnung seinen Jahrhundertroman gewidmet und gezeigt, wie sie allenthalben zerstiebt: „Man dachte damals daran – aber dieses ,man‘ ist mit Willen eine ungenaue Angabe; man könnte nicht sagen, wer und wieviele so dachten, immerhin es lag in der Luft –, dass man vielleicht exakt leben könnte … Aber man wird einwenden, dass dies ja eine Utopie sei!“*
* Der Mann ohne Eigenschaften, Band 1, 245f.

Allergische Reaktion

Der Widerwille gegen das Abhören sorgt dafür, dass man den Arzt nicht aufsucht und mit der Bronchitis lieber allein bleibt.

Konstruktion der Destruktion

Es ist eine fatale Eigenschaft des Misstrauens, dass es immer Gründe findet, die es rechtfertigen. In einer Atmosphäre, die wesentlich bestimmt ist von den Erfolgen des Entlarvens und Verbergens, bestätigt jedes neu entdeckte Versteck nur, dass es richtig war, nach ihm zu suchen, und jede stärkere Anstrengung, dem Argwohn ins Selbstverständliche hinein zu entkommen, einen wachsenden Zweifel an der Integrität der Absichten. Im Schein kalter Rationalität arbeitet sich das Misstrauen vor bis in den letzten Winkel eines persönlichen oder Staats-Geheimnisses. Dumm nur, dass die dort gewonnene Einsicht das Verhältnis im Ganzen nicht sicher macht, sondern zerstört. Was self-fulfilling prophecies sind, lässt sich nirgendwo genauer studieren.

s.a. „Hello Europe my old friend“

Wer hat an der Uhr gedreht?

Winterschlaf, Frühjahrsmüdigkeit, Sommerloch, Herbstdepression – wozu die Zeit umstellen?

Eins, Zwei, Drei

An erster Stelle zu stehen, ist nicht nur auf dem Siegertreppchen schön. Der Vorzug, den die Erstgeborenen, die Erstausstrahlung oder die Erstbesteigung haben, liegt vor allem im fehlenden Vorbild. Weil ohne Vergleich, erscheint das Erste hervorgehoben. Es hat noch keine Geschichte, ja stellt deren Anfang dar. Der first mover bricht ein in eine Branche, verändert sie, wird zum beispielgebenden Fixpunkt für alles, was nach ihm kommt. Da haben die anderen das Nachsehen, wenn auch nicht immer den wirtschaftlichen Nachteil. Alles Zweite steht in einer Welt, die den Wettbewerb zum offiziellen Beziehungsdesign zwischen Menschen ausgerufen hat, nicht im besten Ruf. Der Zweite ist der erste Verlierer. Vom Image des Unterlegenen befreit er sich nur, wenn er sich entschädigen kann mit einem höheren Rang an anderer Stelle. Die Nachhaltigkeitsindustrie hat sich das längst zunutze gemacht. Sie verkauft mit dem wiederverwertbaren Produkt aus second hand zugleich das gute Gewissen und trickst so das nimmermüde Konkurrenzdenken aus. Man fühlt sich oben, wenn auch an anderer Stelle. Nie war Gebrauchtes derart je geadelt. Vom Sperrmüll über Designermöbel aus Fabrikabfall bis zum Remix in der Musik – dass dasselbe noch einmal ganz anders verwendet werden kann, ist uns lieb inzwischen und teuer.

Vom Ersatzteillager zum Studio für artificial design: Die Karriere des Zweiten erreicht den Alltag

Vom Ersatzteillager zum Studio für artificial design: Die Karriere des Zweiten erreicht den Alltag

Längst hat sich auch der Lebenstil auf die neue Karriere des Zweiten eingestellt. Man redet nicht mehr abschätzig vom Ersatz oder mitleidig von Prothesen: Die dritten Zähne werden eingesetzt zu Zeiten, da die zweiten allemal noch getaugt hätten. Keiner, der sein „Zweithaar“ stolz auf dem Kopf trägt, denkt noch daran, dass er sich eine Perücke aufgesetzt hat oder Extensions anbringen ließ. Wo ein Verlust nicht bedeutet, dass man zum Verlierer wird, ist das Zweite das wahrhaft Erste.

Kein Anschluss unter dieser Nummer

Auf dem Mond ist die Schattenseite von allen Funksignalen abgeschnitten und für die Kommandozentrale der NASA nicht erreichbar. Für die Schattenseite des Menschen interessiert sich die NSA bis in höchste politische Ämter. Wer hätte gedacht, dass unsere dunklen Stellen noch einmal derart aufgewertet würden und „Funkstille“ nicht als Manko, sondern als Idealzustand zwischen Freunden angesehen wird?

Ohne Worte

Sie fürchtet den Tag, an dem er sein Lachen wiederfindet.

Fundort Freiburg Hauptbahnhof, Treppenabgang Gleis 1. – Das Gummi-Grinsen gewann den Siegerpreis im Wettbewerb „Hässlichstes Kinderspielzeug“, Kategorie „Kleinkind“

Fundort Freiburg Hauptbahnhof, Treppenabgang Gleis 1. – Das Gummi-Grinsen gewann den Siegerpreis im Wettbewerb „Hässlichstes Kinderspielzeug“, Kategorie „Kleinkind“

Die Ähnlichkeit ist verblüffend

In dem jüngst veröffentlichten, geistsprühenden Briefwechsel zwischen den beiden höchst unterschiedlichen Gleichgesinnten Jacob Taubes und Hans Blumenberg findet ein Sinnspruch Erwähnung, den Taubes, der Berliner Philosoph und Rabbiner, seinem Vater verdankte und den er auf einen Fall von bürokratischer Weltfremdheit an seiner Universität anwandte: „Ein Kamel ist ein Pferd, das von einer Kommission zusammengestellt wurde.“* Auch wenn das Bild alt ist, sind die Eseleien des Behördenbetriebs, nicht nur des akademischen, kaum je so treffend wie komisch beschrieben worden.

*Hans Blumenberg / Jacob Taubes, Briefwechsel, 109

Zeitverschiebung

„Tschüs. Bis später.“
„Ich denke, wir sehen uns eher.“

Limburg*

Gnade vor Recht ergehen zu lassen, ist ein Vorrecht der Mächtigen. Sie allein können auf die Durchsetzung der Gesetze verzichten und der Verzeihung die größere Veränderungskraft zutrauen als der formal geforderten Strafe. Darin es zu Meisterschaft und singulärer Expertise gebracht zu haben, vermag jenes Testament mit Fug zu behaupten, auf das sich die Kirche als ihr wichtigstes Grundzeugnis – wenn schon nicht immer beruft, dann wenigstens – berufen sollte. In dem wird von einer Magd berichtet, die mit ihrem kostbaren Öl die Füße des Welterlösers benetzt. Das begleitende Volk reagierte so wie immer, heuchlerisch entrüstet ob der ungeheuren Verschwendung. Und der mit dieser Geste Bedachte, dem nachgesagt wird, dass er in arme und obdachlose Zustände hineingeboren wurde und zeit seines Lebens auf materielle Güter nicht viel hielt? Er macht daraus ein Gleichnis über den wahren Reichtum: den des Schulderlasses (Lukas 7, 37-50). Wo viel vergeben wird, wächst große Liebe. Sowohl die pharisäische Empörung über die Baukosten wie die frömmlerische Verteidigung der neu errichteten Bischofsresidenz im beschaulichen Grenzstädtchen zwischen Taunus und Westerwald verfehlen weit das Niveau der Sache: als ob es um goldene Wasserhähne an überteuerten Badewannen ginge oder das verbriefte Recht auf Repräsentanz eines nie bezifferten Vermögens. Nicht an dem, was sie hat, entwickelt sich oder zerbricht letztlich das Vertrauen in die Integrität einer Institution, sondern an dem Verhältnis, das sie dazu hat. Die Glaubwürdigkeit einer Einrichtung, die wie keine andere wissen müsste, dass Rechthaberei nicht die zwangsläufige Folge davon ist, Recht zu haben, hängt viel an der Art, wie sie jene behandelt, welche die gebotenen Grenzen auch in diesem Unterschied nicht angemessen gewahrt haben. Was der Wiener Großschriftsteller Robert Musil einmal die „Moral des nächsten Schritts“ genannt hat, kann der Scheinheiligkeit hier wie dort den Boden entziehen: „Nie ist das, was man tut, entscheidend, sondern immer erst das, was man danach tut!“ (Der Mann ohne Eigenschaften, Band 1, 735) Im Verzicht auf Macht zeigt sich der wahre Reichtum jener, die es nicht nötig haben. Das ist die diskreteste Form seiner Darstellung: dass Gnade vor Recht ergeht, ohne das Recht so zu beugen, dass die Gnade dabei billig wird. An dieser Armut ist nichts arm.

*Am Tag der Papstaudienz von Bischof Tebartz-van Elst 

Todesstreifen

Es spricht viel dafür, dass die Erzählung von der Vertreibung aus dem Gottesgarten „wahr“ sein könnte, wenn es nur einer tödlichen Abschreckung bedurfte, um der Natur die Gelegenheit zu geben, ihre eigene Erinnerung ans Paradies aufzufrischen. Nirgendwo ist die Landschaft anmutiger als im Niemandsland zwischen den früher verfeindeten Weltmächten. Im ehemaligen Sperrgebiet an der Zonengrenze hatte die Welt ungestört Zeit zu zeigen, was ohne den Menschen möglich wäre. Die Gegend verdiente, „Mythenbeweis“ genannt zu werden, wenn es das geben könnte.

Auf Nummer sicher

Die Mentalität der Deutschen erschließt sich kaum anschaulicher als über deren restriktive Geschwindigkeitsbeschränkungen für Straßenkurven. Während hierzulande Biegungen, die mit einem Tempolimit von sechzig Stundenkilometern belegt sind, meist problemlos mit hundert genommen werden können, sollte man seinen Fahrstil andernorts an die ausgeschilderte Vorschrift pünktlich angleichen, will man nicht in Gefahr geraten. Die Verordnung ist bei uns als aufgeblasener Puffer weit vor der Realität angelegt. Wer sich in diesen Regeln bestens auskennt, braucht nicht zu fürchten, dass er sich auch noch in der Wirklichkeit zurechtfinden muss.

Before I die …

… möchte ich noch einen geistreichen Halbsatz formulieren.

Kunstprojekt von Candy Chang, derzeit an der Universität Witten/Herdecke. www.beforeidie.cc

Kunstprojekt von Candy Chang, derzeit an der Universität Witten/Herdecke

Themenpark

Zwei Wochen, um einen ganzen Strauß von Themen zu behandeln. Doch worüber wird gesprochen?

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Grammatik der Gelegenheit

Weil das ausschließende Oder – jetzt oder nie – sich mit dem einschließenden Oder – bei dir oder bei mir – bestens versteht, finden sich beide wieder zwischen Ich und Du.

Roter Faden

Das Gespräch, das Freunde teilen, hört nicht auf, Gespräch zu sein, nur weil sie vielleicht einmal gerade ein paar Tage oder Wochen nicht miteinander gesprochen haben. Eine Freundschaft hält das gelassen aus. Das ist in einer Ehe anders. Freunde können jederzeit wieder anknüpfen, gleich wie lang sie sich nicht gesehen haben.

Wort zum Sonntag

Unter allen Wochentagen ist ausgerechnet der Muße spendende Sonntag der am wenigsten philosophische. Er leistet sich, auf die beiden Hauptfragen der gehobenen Reflexion zu verzichten: die nach dem Grund „Warum?“ und die nach den Folgen „Wozu?“. Frei von Rechtfertigungszwang und Zweckrationalität lebt es sich besser, aber es denkt sich nicht gut.

Biorhythmus

Je „gesünder“ das Frühstück, desto weniger eignet es sich für den Morgenmuffel. Man sollte schon sehr ausgeschlafen sein, um ein Müsli von der Haferflockenmischung bis zu den geschälten Früchten perfekt zu komponieren. Da muss jeder Handgriff sitzen, die Lebensorganisation bereits voll entwickelt sein, auf dass die Abfolge der Zutaten fehlerfrei gelingt. Leicht zur Küchen-Katastrophe entwickelt sich ein allzu verträumter Griff zum Weckglas (als ob der Hersteller mit dem Markennamen die Situation antizipierte). Einmal aus der Hand gefallen, sorgen Zigtausende verstreuter Weizenkeime und Glassplitter dafür, dass der Tag seine Wendung zu früher Stunde genommen hat. Vor Tagesanbruch spricht viel für den idiotensicheren Kaffeeautomaten mit Kapselschacht. Dieselben Gründe ziehen nachmittags nicht mehr, weil aus der aufwandsintensiven Siebträgermaschine der feinere Espresso läuft. Nur wenige Hotels nehmen auf den Halbschläfer am Frühstückstisch durch ihren Service Rücksicht. Üblicherweise zwingen sie ihn zum Büffet und nötigen ihm gleich eine ganze Reihe von Entscheidungen ab, als sei er schon im Vollbesitz seiner Urteilskraft.

Spitze Sätze

„Hätten wir das Wort, hätten wir die Sprache, wir bräuchten die Waffen nicht.“* Weil das Wort die gefährlichere Waffe ist?

*Ingeborg Bachmann, Frankfurter Vorlesungen I: Fragen und Scheinfragen, in: Werke 4, 185. – Verlagsstand auf der Buchmesse, inszeniert als Abschussrampe: Die Branche rüstet auf

*Ingeborg Bachmann, Frankfurter Vorlesungen I: Fragen und Scheinfragen, in: Werke 4, 185. – Verlagsstand auf der Buchmesse, inszeniert als Abschussrampe: Die Branche rüstet auf

 

Neuer Schein auf Neuerscheinungen

Ein rascher, schweifender Blick von der Empore über die Messehalle entdeckt nur bekannte Köpfe aus Fernsehen, Sport und Politik. Sie zieren mehr denn je die Plakate, mit denen die Verlage bei der Frankfurter Weltschau der Literatur auf sich und ihre Bücher aufmerksam machen. Zum Autor taugt, wer sich telegen bewährt hat. Das Buch ist nurmehr Teil einer crossmedia production. Ein anmutiger Stil erreicht nie die Aufmerksamkeit eines anmutigen Gesichts. Glück hat, wer beides besitzt. Man leiht sich den Erfolg der fremden Medien und traut dem eigenen diesen kaum noch zu. Da wirkt ein großer Mann im letzten Winkel des Messestands seines bedeutenden Verlags wie ein lebendiger Anachronismus. Leicht jenseits der bunten Umschläge und der etwas zu grellen Tonlage all der Umstehenden sitzt er konzentriert und nimmt Notiz von nichts außer einem Text: Der Verleger liest.

Bruchstücke einer großen Konfession*

Frankfurt heißt seine Buchmessengäste aufs Herzlichste willkommen.

* Goethe, Dichtung und Wahrheit. Zweiter Teil, 7. Buch, HA 9, 283

* Goethe, Dichtung und Wahrheit. Zweiter Teil, 7. Buch, HA 9, 283