Kategorie: Allgemein

Mittagsruhe

Auch wenn die Mittagshitze meteorologisch eine kleine Ungenauigkeit darstellt – der Temperaturhöhepunkt ist am späten Nachmittag erreicht –, war der Mittag metaphorisch immer der Höhepunkt. „Vieles sieht da der Mensch, was er nie sah, und soweit er sieht, ist alles in ein Lichtnetz eingesponnen und gleichsam darin begraben. Er fühlt sich glücklich dabei, aber es ist ein schweres, schweres Glück.“ – Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, Nr. 308: „Am Mittag“

Der Leser

Zur Erinnerung an den vor kurzem gestorbenen Journalisten und Schriftsteller Henning Ritter, der heute siebzig Jahre alt geworden wäre

Frankfurter Opernplatz, später Nachmittag. Fahrräder schlängeln sich elegant durch die Menge der Passanten. Die immergleichen Anzugträger hasten zur nächsten immergleichen Sitzung. Eine Frau im kurzen Kostüm kämpft mit den vollen Einkaufstüten aus der Goethestraße, drei Jungen in Jeans und schwarzer Jacke unterhalten sich lebhaft gestikulierend. Inmitten des allgegenwärtigen Eilens ein Mann, der sich so gar nicht in das chaotische Treiben fügt. Ab und zu hebt er den Kopf, um sich des Wegs zu vergewissern, die übrige Zeit läuft er vornübergebeugt, den Blick in einen Text vertieft – und liest. Er ist Teil des Gewusels, gewiss, und doch gehört er nicht dazu. Nicht der Platz ist ihm das Zentrum wie so vielen anderen, die hierher kommen, weil sie sich am Brunnen verabredet haben, nicht ein nächster Termin das Ziel, die Stadt scheint ihn nicht weiter zu interessieren. Konzentriert auf die Sätze in seiner Hand geht er langsam in Richtung des Eingangs zur U-Bahn-Haltestelle. Er ist sich selbst genug, seine Lektüre, seine Gedanken, sein stilles Gespräch mit dem Autor dessen, was er studiert.

Warum der Mann dem Beobachter, der ihn schon aus der Ferne von hinten sieht, überhaupt auffällt zwischen all den anderen Individuen? Es ist der Gang. Den kennt dieser. Der ist ihm vertraut, auch wenn er ihn viele Jahre nicht mehr gesehen hat. Die freudige Verblüffung ist groß, als sie einander begegnen, bei beiden. Ich, der Beobachter, habe von weitem meinen früheren Kollegen Henning Ritter wiedererkannt, er auf dem Heimweg, ich in Eile zu einem Treffen. Gesteigert wird die Verwunderung, weil Henning Ritter gerade am Wochenende zuvor einen Essay publiziert hat in der Zeitung, für die wir einst beide schrieben, einen Aufsatz, in dem er nachdachte, wie der Zufall im Leben Regie führt. Das kann doch kein Zufall sein, hieß der Titel, und so war der Tenor des ganzen Stücks. Das hatte ich gelesen und anlässlich dessen mich gefragt, wie es dem Kollegen in der Zwischenzeit wohl ergangen sei. Nun treffen wir uns, ein paar Tage später, zusammengeführt von, ja wovon …? Es folgt ein langes Gespräch, nun schon im Café, die Absichten unterbrechend, die dafür gesorgt haben, dass unsere Wege sich kreuzen.

Zeitansage

„Wir haben den Bahnhof mit einer Verspätung von plus einundsechzig Minuten verlassen“, schließt der Schaffner im Bemühen um Korrektheit seine Lautsprecheransage. Würde er es doch nicht so genau nehmen: eine „Verspätung“ von minus einundsechzig Minuten wäre auch in Ordnung.

Ach wir Armen!

Anruf im Frankfurter Goethehaus: ob die Mitarbeiterin kurz zu sprechen sei. „Ich zähle Geld“, sagt sie leicht unwirsch. Dem Dichterfürsten, den die Finanzen nicht nur als Minister fasziniert haben, hätte es gefallen. „Willkürlich handeln ist des Reichen Glück“, heißt es in seinem Drama „Die natürliche Tochter“.

Paarlauf

In der noch kühlen morgendlichen Sommerluft laufen selten viele Paare im Gleichschritt durch den Park. Sie joggen nicht um des Trainingseffekts willen, der bei dem einen erkennbar geringer wäre als bei dem anderen Partner. Rücksichtsvoll stimmen sie ihr Tempo aufeinander ab, gerade so, dass es hier nicht zu langsam und dort nicht zu schnell ist. So üben sie sich ein in künftige Gemeinsamkeit. Sie synchronieren ihre unterschiedlichen Zeiten, das Lebensgefühl, den Tagesrhythmus, die je eigenen Geschwindigkeiten im Handeln und Reagieren, Ungeduld und Langeweile, Spontaneität oder Erwartungen.

Türspion

20130715-191521.jpg
Hauptquartier der befreundeten Geheimdienste in Leipzig, Nikolaistraße. Wir verraten die Klarnamen: Parterre, die Auslandsabteilung der NSA. Erster Stock, das neu bezogene Rechenzentrum (erkennbar an der frischen Aufschrift). Zweite Etage, der britische Secret Intelligence Service. Eine Treppe höher, die Rechtsabteilung mit angeschlossenem Notariat. Viertes Geschoss, Horch und Guck, die Alters-WG der Stasi. Unterm Dach wartet eine möblierte Penthousewohnung auf Herrn Snowden.

Apparatemedizin

In der Notaufnahme des Krankenhauses kommt die Ärztin zur Anamnese. Der Patient hat einen Schlaganfall erlitten. Welche Medikamente er denn nehme, fragt sie ihn. Dabei tippt sie die Arzneimittel gewissenhaft in ihren Tablet-Computer. Schließlich die Diagnose. „Oh, das kennt meine App aber nicht.“

#Neuland

Knapp vier Wochen ist es her, dass Angela Merkel das Internet zum Neuland erklärte und unvermittelt Häme erntete. Inzwischen wissen wir, dass es wohl angemessen gewesen wäre, mit dem Spott etwas länger zu warten, als es 140 Twitter-Zeichen braucht, um zu reagieren. Neuland: Der Innenminister wird zum Außenminister. Er reist zu den transatlantischen Freunden, die einst das „Neuland“, the New World, entdeckten, von New England über New York bis New Mexico. Zwischen ihnen und uns herrscht mehr als Verblüffung über millionenfachen, feindseligen Rechtsbruch. Was bringt er mit? Nichts Neues. – Die Welthüter der Freiheit, des Individualismus, der Persönlichkeitsrechte, der Demokratie verfolgen einen jungen Informatiker, der um der Freiheit willen, aus Gewissensgründen, wegen des Schutzes der Privatsphäre und der Selbstbestimmung des Bürgers verrät, wie tief Geheimdienste längst in die innersten Lebensadern einer Gesellschaft ihr zersetzendes Gift spritzen. – Die Nötigung, Freiheit zu sichern, zerstört die Freiheit zugunsten der Sicherheit. – Wir, die wir uns gegen Datenspionage wehren, liefern im nächsten Augenblick wieder freiwillig die Informationen ab bei denen, die danach gieren, und kooperieren mit unserem Gegnern aus purer Gewohnheit. – Ein Zeitalter, das einmal begonnen hatte, indem es aufgeklärt gegen Herrschaftswissen und Machtmonopole kämpfte, nutzt die Instrumente der Intelligenz, um Herrschaftswissen zu bilden und Machtmonopole zu sichern. – Das Bedürfnis zu teilen und mitzuteilen, unterhöhlt das Urheberrecht; der Vorrang des Zugangs vor dem Besitz bedroht die Originalität, die Lust, Neues zu erfinden.
Sage einer, er habe dafür schon die Lösung. Wir ahnen allenfalls, wie gründlich unser Selbstverständnis geändert wird, so wie Angela Merkel wohl auch nur geahnt hat, wie wahr ihr Satz wirklich ist.

Arme Teufel

Ein Wochenende im katholischen Polen: Karol Wojtyla, der polnische Papst Johannes Paul II., soll heilig gesprochen werden, so hieß es am Samstag. Und tags drauf kommen zu einem Exorzisten 58.000 Gläubige ins Warschauer Stadion.
Was sagte wohl der polnische Philosoph Leszek Kolakowski heute? Er, ein Meister des Zweifels, den Jürgen Habermas einst für den Adorno-Lehrstuhl in Frankfurt ins Gespräch gebracht hatte, hat vor fünfzig Jahren ein Stück geschrieben, voller Hintersinn, das „Stenogramm einer Pressekonferenz, die der Dämon am 20. 12. 1963 in Warschau abgehalten hat“. Darin stellt sich der Teufel vor: „Sie haben aufgehört, an mich zu glauben, meine Herren, gewiss, ich weiß davon, ich weiß es, aber es lässt mich kalt. Ob Sie an mich glauben oder nicht, es bleibt einzig und allein Ihre Sache. Haben Sie mich verstanden, meine Herren? Es ist mir maßlos gleichgültig, so gleichgültig, wie nur irgendetwas … Dass Sie meine Existenz leugnen, das tut meiner Eitelkeit keinen Abbruch und zwar einfach deswegen, weil ich absolut nicht eitel bin. Weil ich nicht die Absicht habe, von Ihnen für besser gehalten zu werden, als ich bin, ja nicht einmal so wie ich tatsächlich bin. Ich will ich selbst sein, weiter nichts. Ihr Unglaube berührt keinen einzigen meiner Wünsche. Sie sind alle erfüllt. Es kommt mir nicht auf die Anerkennung meiner Existenz an, für mich ist nur das eine wichtig – dass das Werk der Vernichtung nicht stockt. Zuweilen stimmen mich die Ursachen dieses Unglaubens nachdenklich. Nun ja, es ist ganz einfach, die Sache fesselt für einen kurzen Augenblick mein Interesse. Ich betrachte Ihren jämmerlichen Skeptizismus etwa auf die gleiche Art, wie sie eine Spinne beobachten, die an der Wand entlang kriecht. Mich macht die Unbedenklichkeit stutzig, mit der Sie Ihren Glauben fahren lassen und ich überlege mir, wie es kommt, dass immer und in jedem Fall ich das erste Opfer bin, sobald der Unglaube um sich zu greifen beginnt. ,Opfer‘, so etwas sagt man so leicht dahin. In Wahrheit bin ich weder ein Opfer, noch trifft es zu, dass ich falle. Oh nein, ich falle gewiss nicht und doch nimmt der Unglaube in mir seinen Anfang. Den Teufel wird man am leichtesten los, dann kommen die Engel, dann die Dreieinigkeit und schließlich Gott.“ (Leszek Kolakowski, Gespräche mit dem Teufel, München 1968, 66f.)

Semantik des Abfalls

Das muss eine seltsame Welt sein, in der das „Entsorgen“, welches dem Wortsinn nach eine der schönsten Befreiungen darstellt, die von der Zukunftsangst, genutzt wird, um die schnöde Unterbringung von Müll zu bezeichnen.

Der gute Mensch

Mit großen Schritten steuert der gerade ausgestiegene Passagier am Bahnsteig auf den rastagelockten Mann zu, der am Müllcontainer steht. Er übergibt ihm seine leere Pfandflasche aus Plastik. Dabei huscht ihm jenes wohlige Lächeln über die Lippen, das nur die Almosenspende ins Gesicht zaubern kann. Der andere nimmt die Flasche, die noch ein paar Eurocent bringt, und wirft sie grinsend in den Behälter. Doch da war der gute Mensch aus der Ersten Klasse schon ein paar große Schritte weiter.

Sind wir nicht alle ein bisschen Pep? ¡Si!

20130626-194134.jpg

München leuchtet

Große Augenprüfung für Farbenblinde. Die bayerische Hauptstadt erwartet zum Wochenende einen Massenansturm der Fehlsichtigen im Rot-Grün-Spektrum. Hier das erste Testbild an der Oper:

20130626-181059.jpg

Die Schokoladenseite der Banken

Kapitalismus mit menschlichem Antlitz: Einer Anlegerin, die durch den Rat des Finanzberaters dreihunderttausend Euro verlor, wird von der bayrisch-italienischen Hausbank ein Brief geschickt, in dem man aufrichtiges Bedauern signalisiert. Als Zeichen des guten Willens ist dem Schreiben eine Tüte mit sechzig Gramm lila Vollmilchschokolade beigelegt. – Andere Vorschläge für versöhnliche Gesten: das Überraschungsei enthält eine Bankaktie; eine Beimischung aus dem Rohstoffsektor, etwa ein Netz Schokogoldtaler; oder aus dem Geschenkefundus des Weltspartags vielleicht das Blanko-Sparschwein zum Anmalen. Weitere Anregungen sind willkommen.

Rede, damit ich dich sehe

Du kannst mir alles ins Gesicht sagen.

Fahrerruf, U-Bahn Frankfurt

Fahrerruf, U-Bahn Frankfurt

Ohrensausen

Wer will dem anderen noch zuhören, wenn er ihn abhören kann?! Das ist der vielleicht folgenreichste Schluss aus den staatlichen Spähprogrammen hier wie dort.

Wo Enten hausen

Die Badesaison hat begonnen.

Entenhausen

Frei nach Sartre

Die Hölle. Aber wo sind die anderen?

Bahnunterführung in Siegen

Bahnunterführung in Siegen

Haltung in jeder Lebenslage

Ehrlichkeit ist die Tugend der Wirklichkeit. Phantasie die der Möglichkeit. Souveränität die der Notwendigkeit. Und die modalen Laster? Lüge, Feigheit, blinder Gehorsam.

Gaffer im Café

Nehmen Sie Platz, schalten Sie bitte Ihr Mobiltelefon aus, die Vorstellung beginnt in fünf Minuten.

20130612-185138.jpg
München Odeonsplatz, Café Tambosi

Tagträume

Während des Seminarvortrags geschah von den Teilnehmern unbemerkt Ungeheuerliches.
Heimtückische Früchte

Endstation Sehnsucht

Alle grauen Mäuse, bitte einsteigen: Das Leben kann so bunt sein.

Zürich, Haltestelle Tiefenbrunnen

Zürich, Haltestelle Tiefenbrunnen

Maibowle

Sich das Wetter schönsaufen? Es ist zu kalt für Allmachtsphantasien.
IMG_2971

Na, Süßer

Nach der flächendeckenden Einführung der Frauenquote in Chefetagen: Die Männer verstehen mal wieder alles falsch.

Werbeplakat in Zürich

Werbeplakat in Zürich