Der Narzisst vor hundert Jahren

Eine Lesefrucht:

„Wie doch die Menschen einander das Leben unklar und schwer machen. Wie sie einander herabsetzen, zu verdächtigen und zu verunehren bestrebt sind. Wie doch alles nur geschieht, um zu triumphieren. Was sie zu tun unterlassen, daran sind Äußerlichkeiten schuld, was sie verfehlen, das haben sie nie selbst verbrochen. Immer ist der Nebenmensch nur ein Stein im Weg, immer ist die eigene Person das Beste und Höchste. Wie man sich Mühe gibt, sich zu verschleiern, in der Absicht, weh zu tun. Wie sehnt man sich oft nach offenkundigen, ehrlichen Grobheiten. Das Herz tönt wenigstens in den Wutanfällen. Sonderbar ist, wie wenig ernst die Menschen einander nehmen, wie sie tändeln im Ton der Missachtung mit dem Edelsten, Kostbarsten und Bedeutungsvollsten.
Und wie sie nie ermüden, zu nörgeln, wie sie nie auf den einfachen Einfall kommen, zu hoffen, es gebe Großes, Gutes und Redliches auf der Erde. Dass die Erde das Ehrenwerte sei, will ihnen, so einleuchtend das auch ist, niemals einleuchten. Nur vor ihren eigenen Tändeleien empfinden sie den Respekt, der der Welt, dieser Kirche voller Majestät, gebührt. Wie sie ernst nehmen, was sie sündigen, wie sie noch nie, solange sie erwachsene Menschen sind, geglaubt haben, etwas Feineres und Beherzigenswerteres könne existieren, als sie selber. Wie sie das Unanbetenswerte immer und immer wieder anbeten, das uralte goldene Kalb, das ausdruckslose Scheusal, wie sie emsig glauben ans Unglaubwürdige. Die Sterne bedeuten ihnen nichts, sie meinen, das sei etwas für Kinder: doch sie, was sind sie anderes als unartige Kinder, versessen in das, was man nicht tun soll. Wie sie Angst um sich herum zu verbreiten wissen, im Bewusstsein, dass sie sich selber immer ängstigen vor irgend einem dunklen und dumpfen Etwas. Wie sie sich sehnsüchtig wünschen, nie Dummheiten zu begehen, während doch gerade dieser unedelherzige Wunsch das Dümmste ist, was unter der Sonne empfunden werden kann. Sie wollen die Klügsten sein und sind die denkbar Elendesten … In der Tat, sie geben zu Bedenken Anlass.“*

* Robert Walser, Bedenkliches, in: Phantasieren. Prosa aus der Berliner und Bieler Zeit, 102f.