Lebendiger Brauch

Was für ein schöner Samstagsbrauch: Pünktlich um zwölf, wenn die sengende Sonne im Zenit steht und die Schatten am schärfsten sind, breitet sich Glockengeläut vom Kirchturm aus übers Tal und wird von den Felswänden durch ein sanftes Echo diskret verstärkt. Die Dorfläden verabschieden den letzten Kunden; die Kreissäge in der fernen Schreinerei fährt ihr Kreischen müde herunter; Stille legt sich übers Land, die bis zum Wochenanfang garantiert nicht mehr unterbrochen wird. Ab und zu kräht irgendwo ein heiserer Hahn oder bellt ein aufgeschreckter Hund. Aber kein elektrischer Rasenmäher, kein Laubbläser im Nachbargarten, kein Handwerker, der sich was dazuverdient, kein aufgedrehtes Autoradio stören den Frieden. Von nun an gestalten die Glocken die Zeit: abends um sechs, am Sonntagmorgen, zur Hochzeit am Nachmittag. Solange Rituale fest bleiben, ist der Brauch, den sie repräsentieren, lebendig, bezeugt selbst von denen, die nicht mehr die Lebenswelt teilen, aus der er stammt.