Machtwechsel

Der Ausdruck „Machtwechsel“ verbirgt, dass beim Übergang von einer in die nächste Legislaturperiode nicht die Macht gewechselt wird, sondern die Mächtigen ausgewechselt.

Von allem etwas, für alle zu wenig

Bei extremen Gefährdungen ist der Kompromiss die falscheste aller Antworten. Er, der eigentlich Entscheidungsstärke voraussetzt, weil er das Ergebnis eines hartnäckigen Ringens konsequent zu Ende gedachter Positionen darstellt, fördert die Entschlussschwäche. Aus der Erfahrung, regelmäßig auf die eigenen Perspektiven verzichten zu müssen um eines größeren Ganzen willens, schließen viele, sich solcher Mühen erst gar nicht mehr zu unterziehen. Sie diskutieren und überlassen die Resultatsfindung einer Mehrheitsmeinung. Der größte gemeinsame Nenner ist aber nur die fahle Erinnerung an einen Streit, in dem der Behauptungswille nie auf das Eigene ausgerichtet war, sondern auf das stets höhere Niveau, das mit dem stolzen Namen „Wahrheit“ genannt zu werden verdiente.

Zu Hause

So mancher hat in Zeiten des home office und von Ausgangssperren sein Zuhause verloren, weil es die Eigenschaft eingebüßt hat, ein Asyl zu sein. Rückzugsort, Heimstatt, Nest oder Höhle, selbst die nüchternen Unterkunft und Domizil, sie alle sprechen von einem Lebensgefühl, das in der Regel aufgeräumter ist als die Wohnung, in der es seinen Platz findet. Überhaupt gehört das Weggehen und Zurückkehren wesentlich zum eigenen Quartier. Wie viele Orte von symbolischer Bedeutung gewinnt auch das Zuhause seine Kraft erst durch das, was es nicht ist.

Zeitkrankheit

Aus dem Buch „Gesundheit und Krankheit in der Anschauung alter Zeiten“ von Troels Frederik Troels-Lund, einem Verwandten des dänischen Philosophen Sören Kierkegaard: „Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Krankheiten ihre Geschichte haben, so dass jedes Zeitalter seine bestimmten Krankheiten hat, die so nicht früher aufgetreten sind und ganz so auch nicht wiederkehren werden.“*

* Fundstelle: Friedell, Kulturgeschichte der Neuzeit, 96

Das Ärgernis der Demokratie

Seit alters ist das Ärgernis der Demokratie die Bedingung dafür, die Demokratie nicht als Ärgernis sehen zu müssen. Wenn jede Stimme zählt, gewinnt meist der, der den Durchschnitt aller Überzeugungen so repräsentiert, dass er das Meinungsspektrum bis hin zur Selbstwidersprüchlichkeit ausdehnt, ohne dass es seine Integrität gefährdet. An der Spitze steht einer, der nicht spitz, sondern so unscharf redet, dass er gerade noch nicht als harmlos gelten muss. Sein Mühen um Mitte und Maß verkörpert er in jener Mittelmäßigkeit, welche die Zustimmung in der mehrheitsfähigen Einsicht artikuliert, dass er einer für alle zu sein vermag, weil er einer von allen ist. Kaum mehr als das politisch Handelsübliche, das Mediokre zu fördern, ist die Zumutung der Demokratie an die Gebildeten unter ihren Verteidigern.

Liebeserfahrung

Die Grundstruktur der Liebeserfahrung: Erst im Augenblick, da er gefunden, fällt ihm auf, was er gesucht hatte. Nicht anders finden zu können, als gefunden zu werden, qualifiziert das Suchen als den notwendigen Irrtum, zum Ziel zu kommen.

Fernweh

Wenn der Bewegungsradius auf ein paar Kilometer beschränkt ist und man nicht mehr weit gehen kann, bleibt dennoch der Blick in die Ferne. In Zeiten des staatlich verordneten Eingesperrtseins wächst dem Fenster eine besondere Bedeutung zu. Es repräsentiert den Ort, an dem zusammenfällt, was nicht sein darf und sein muss, wo sich Sehnsüchte und Realität so verbinden, dass der Schmerz des gebotenen Verharrens mit dem Auge, das über den Horizont schweift, zugleich aufkommt und abklingt. Aus dem Fenster zur Welt wird das Fenster, das die Welt ersetzt.

Seien wir mal ganz und gar objektiv

Es gehört zum guten Ton in einer pluralistischen Gesellschaft, in der viele Wege, auch der Interpretation von Fakten, offenstehen, dass die Bedeutung des Worts „objektiv“ immer subjektiver wird, und der Willkür anheimgegeben. Das ist gut für jene, die sich scheuen, eine Festlegung zu treffen, und anstrengend für alle anderen, die sich um Eindeutigkeit und Verbindlichkeit mühen. Je weniger Objektivität belastbar ist, desto unsachlicher wird das Denken.

Vom Unterschied zwischen Politik und Philosophie

Der Politiker unterscheidet sich vom Philosophen nicht zuletzt dadurch, dass dieser sich bemüht zu sagen, was andere sich gerade nicht sagen können, aber fast gedacht haben, wohingegen jener nur das meint, sagen zu sollen, was andere hören wollen, auch wenn er es anders denkt. Das Experiment des Philosophenkönigs, das mit Platon begonnen hat, muss schon aus strukturellen Gründen scheitern. Was der Masse als Wahrheit gilt, ist dem Einzelnen im Ernst zweifelhaft.

Vollidiot

Dass der Schwachkopf nicht zu überzeugen ist, wäre nicht das Problem, wenn er sich wenigstens verführen ließe. Aber auch dazu fehlt ihm die Intelligenz.

Außer Frage

Beethoven soll einmal einen Violinisten angeherrscht haben, der vor der Uraufführung einer der Kompositionen des Meisters meinte, sein Quartettpart sei unspielbar: „Meint er etwa, dass ich an seine elende Geige gedacht habe?“* Die Frage, als Machtinstrument missbraucht, erklärt jede Antwort von vornherein als wertlos, weil sie ein Rechtfertigungsgefälle maximal ausnutzt. Ihr angemessen zu begegnen, gelänge allenfalls der Schlagfertigkeit. Die zeichnet sich stets dadurch aus, dass sie eine Erwiderung darstellt, ohne eine Erklärung abzugeben. Indem sie sich auf die Frage bezieht, entzieht sie sich ihrer subversiv. Vielleicht ist das der größte Nutzen von social media, dass sie ein unbegrenztes Übungsfeld darstellt für aufsässigen Witz und rebellische Zungenfertigkeit, für die Kraft schneller Entgegnungen und den Reichtum an öffentlicher Originalität. Die Losung kann daher nur lauten: Lass die Mächtigen reden; die Gewandtheit und Geistesgegenwart der vielen sind ihnen jederzeit überlegen.

* Aron Ronald Bodenheimer, Warum? Von der Obszönität des Fragens, 164

Das hohle Ich

Nimmt man dem Selbstdarsteller die Bühne, verschwindet mit der Gelegenheit zur Darstellung auch das Selbst. Für ihn ist das Ich nur ein anderer Name für das Echo, das dem Applaus folgt.

Die Stärke des Schwachen

Eine auch in der Theologie genutzte Denkfigur, die Macht der Ohnmacht, gerät immer dann in den Fokus, wenn vor allem die Schwäche einer Institution sichtbar wird, deren Wert aber unbestritten bleibt. Was aber soll stark sein an Formen der Wehrlosigkeit, wo doch allein die Fragilität in dem Augenblick hervortritt, in dem in Zweifel gezogen wird, was sonst als unfragliche Grundlage des Zusammenlebens, nicht zuletzt des politischen, gilt? Wer mit unverhohlener Häme auf eine Demokratie zeigt, die ihre eigenen Symbole dem Pöbel gegenüber scheinbar nicht zu verteidigen weiß, verkennt das Wesen der Freiheit. Die nämlich zeigt sich am deutlichsten in Momenten ihres Entzugs. Und der schier elend langen Geduld mit jenen, die sich dort fälschlich auf sie berufen, wo sie aus purer Willkür Schaden anrichten im Gemeinwesen. Freiheit ist so stark, dass sie auch dann noch an sich glaubt, wenn von ihr nur noch ein anarchischer Rest übrig geblieben ist. Und erst eingreift und den Verzicht auf sie einfordert, sobald ihr, der vieles möglich ist, in den Sinn kommt, alles mögliche möglich sein lassen zu wollen zu Ungunsten derer, die darin den Charakter des Möglichen korrumpiert sehen müssen.

Auf Zeit

Das Leitmotiv der Demokratie wiederholt den Hauptsatz des Lebens: Alles hat seine Zeit.

Beifang

Beim Fischzug durch das aufgewühlte Meer der Gedanken verfangen sich Sätze, die nicht recht zu gebrauchen sind, aber auch zu schade, um sie wegzuwerfen. Die Notizbücher sind randvoll davon. Ihre Zwitterqualität verlieren sie im Augenblick ihrer Publikation. Da treten sie in Konkurrenz zu dem geplanten Werk, das noch geschrieben sein will, aber nie so weit bearbeitet wird, weil die knappe Sentenz eine Überlegenheit zeigt, die ein noch unfertiger Text, dem sie ihre Entdeckung überhaupt erst verdankt, nie erreichen wird. Im Beifang findet sich oft genug ein Edelfisch; da muss nichts anderes mehr auf den Tisch.

Monothematisch

Corona: das Thema nervt, weil die Sache lästig ist. Und sie ist es nicht nur wegen der elenden Krankheitsfolgen, sondern auch weil sie kein zweites Thema neben sich duldet. Der Absolutismus der Wirklichkeit demütigt das Denken.

Bürgernähe

Der Politiker, der nach Nähe zu seinem Wahlvolk strebt, kann sie rasch wiederfinden, wenn er nur gesteht, die Lage nicht immer im Griff zu haben. Das nämlich ist der Normalfall eines freien Bürgers und hierin wäre er ihm am meisten ähnlich, der sich im Raum des Ungewissen so bewegt, dass er seinen Entscheidungen die Erinnerung nicht tilgt, sie hätten auch anders getroffen werden können. Je mächtiger Menschen sind, desto eher neigen sie zur Furcht vor diesem Bekenntnis der Fraglichkeit und des Zweifels. Vielleicht nicht mächtig, aber souverän ist immer der Nachdenkliche, der sein Denken nicht nur dem Handeln voranstellt, sondern im Nachgang zu einem Entschluss wieder aufgreift, was dieser durch seine Einseitigkeit ungerechterweise verdrängt hat, bis hin zur Offenheit einer Revision oder Korrektur.

Aus dem Füllhorn der Wünsche

Mit Wünschen darf man nicht knausern. Sie sollten immer großzügig bemessen und reichhaltig sein. Man weiß ja nie, wie viele sich erfüllen.

Erklärungsversuche

Für jede Erklärung gilt die Maxime: gerade so viel, dass der kluge Leser oder Hörer des Rätsels Lösung selber zu finden vermag, und in jedem Fall so wenig, dass er sich nicht gelangweilt und bevormundet vorkommt. Die Erläuterung sollte immer der Auftakt zur Deutung sein, nie der Versuch, sie zu ersetzen. Es besser zu wissen, dieser feine Stolz gebührt allenfalls dem Interpreten.

Neue Wege, neue Ziele

Das Ziel ist der am meisten überschätzte Punkt auf einem Weg. Mit seinem Anspruch, dass es nur darum ginge, es möglichst rasch zu erreichen, lenkt es ab von dem, was eine Bewegung überhaupt interessant sein lässt, von der Plötzlichkeit einer Entdeckung, vom wachsenden Selbstgefühl, das sich einstellt in der Bewältigung von Hindernissen, von der Freiheit abzuirren, auf der alle Lebenserfahrung gründet. – Was hast du dir vorgenommen? Anzukommen. Wo? Das wird sich zeigen. – „Im Frühjahr sich verlieben, im Spätsommer das Ziel seiner Wünsche erreichen – so ist‘s am schönsten“, schreibt Sören Kierkegaard in einem Buch, dessen Titel „Entweder / Oder“ vor allem eine Verheißung enthält: Es gibt eine Alternative.

Hau ab!

Dem Jahr zum Abschied grußlos nachgerufen: Habe mit dir zu viel vermisst, als dass ich an dir etwas vermissen könnte.

Ein Jahr zum Vergessen?

Alles, was knapp „zum Vergessen“ heißt, ist genau das, woran man sich Jahre später noch genau erinnern wird.

Lesarten

Drei Lesarten, die Bücher zu sortieren:
1. die gewöhnliche, die ein Buch von Anfang an sich fortlaufend erschließt, weil sie überzeugt ist, dass der Gedanke folgerichtig vorgestellt ist und in seiner Logik ihn nachzuvollziehen sich lohnt;
2. die selektive, die ein Buch wild durchblättert, mal hier, mal dort stöbert auf der Suche nach einem anregenden Satz, einer Sentenz, einer These, auf die sich hinzuarbeiten zu mühselig erscheint, ohne die Hoffnung aufgegeben zu haben, fündig zu werden mit dem Wenigen, das genügt;
3. die verdrehte, die ein Buch hinten aufschlägt, die Pointe gewissermaßen vorwegnimmt in der Ahnung, dass es im Ganzen ungenießbar ist und so durch die voreilige Auflösung sich selber der äußerlichen Spannung beraubt und damit des einzigen Grunds, es als Werk anzufassen.

Romantische Liebe

Anruf bei der Freundin, die es, mit Blick auf bessere Tage, einzuladen gilt zur Jubelfeier:
„Lang nicht gesprochen. Fast sieben Jahre. Bist du noch zusammen mit F.?“
„Ach was, das weißt du doch, dass ich es nicht gut bei einem aushalte. Sieben Jahre, sagst du? Das waren, lass mich zählen, fünf Neue in der Zwischenzeit. Mit einem habe ich es immerhin geschafft, in eine gemeinsame Wohnung zu ziehen. Ging dann aber schnell auseinander.“
„Wen soll ich auf die Einladungskarte schreiben? Wie heißt er?“
„Wann ist das Fest? Im Sommer? Schreib einfach: ,… mit Begleitung‘.“
„Deine Ansprüche an Männer sind einfach zu hoch. Der muss noch geboren werden, der ihnen genügen kann.“
„Da bleib ich doch lieber meinem Niveau treu als meinem aktuellen Partner.“
„Aber mit hohen Leitbildern kann man nicht zusammenleben.“
„Entschuldige, aber du lebst mit nichts anderem als mit Idealvorstellungen, immer wieder. Deswegen tausche ich die Realität ja ab und zu aus.“
„Behältst du noch den Überblick?“
„Als ob es darum ginge.“
„Das klingt abgeklärt.“
„Nein. Das ist der Inbegriff von Romantik. Du bist doch der Schlaue und müsstest wissen, dass die Richtschnur der Schwärmer stets das unerreichbare Vorbild ist. Meine ,blaue Blume‘ hat noch keiner der Männer gepflückt, mit denen ich zusammen war. Wahrscheinlich bin ich geradezu der Inbegriff der Romantikerin.“