Die Sehnsucht nach dem, was über die Zeit verloren gegangen ist, verführt uns gelegentlich, den alten Zustand wieder herbeizuwünschen. Man kann aber nicht sinnvoll rückwärts gewandt nach vorn gehen.
Niveaufrage
Vor jeder Versöhnung steht die Verführung. Sie muss stark genug sein, anderes attraktiver zu finden als die eigene Position, und darf nicht so dominant sein, dass der Verdacht entstehen könnte, es ginge ihr nur darum, das Eigene zu bewerben. Versöhnung findet sich selten im Kompromiss, viel eher auf einem neuen Niveau, das die ursprünglich verhärteten Standpunkte überbietet. Im tiefsten ist die Verführung das Talent, die Brüche hier wie dort zum Anlass zu nehmen, sich auf Größeres und Wesentlicheres einzulassen. „Wir verführen durch unsere Zerbrechlichkeit, niemals durch unsere Fähigkeiten oder durch starke Zeichen“, sagt Jean Baudrillard.* Und schaffen so den festen Grund der Versöhnung, der es gelingt, Schwäche und deren Eingeständnis in die Voraussetzung zu verwandeln, kraftvoll zu sein.
* Von der Verführung, 95
Angst
Angst (nicht: die Ängste) ist jener Schwellenwert der Freiheit, an dem sich entscheidet, ob sie noch handlungsfähig bleibt oder in Schockstarre fällt. Umgekehrt ließe sich Freiheit verstehen als jene Ausdrucksform von Angst, in der sie sich für ein paar glückliche Augenblicke selbst vergisst. Hier wie dort geht es um die Bewältigung und die Bearbeitung von höchst unbestimmten Situationen. Das wusste schon der dänische Philosoph Sören Kierkegaard: „Angst ist keine Bestimmung der Notwendigkeit, aber auch keine der Freiheit, sie ist eine gefesselte Freiheit, wobei die Freiheit in sich selbst nicht frei ist, sondern gefesselt, nicht in der Notwendigkeit, sondern in sich selbst.“*
* Der Begriff Angst, Gesammelte Werke, 11. und 12. Abt., 48. – Siehe auch die Notiz „Schwindel“
Wenn alle alles sagen
Systeme überfordern sich in dem Maße, wie sie ihre eigene Selbstbeschränkung aufgeben. So gelingt Kommunikation gerade dadurch, dass nicht jeder alles sagt, sondern sinnvoll unterschieden wird zwischen den Augenblicken des Redens und den glücklichen Momenten des Schweigens, zwischen denen, die etwas zu sagen wissen, und jenen, die bloß lautstark plappern. Kurz: Sie glückt, weil sie weiß, wann sie auf sich besser verzichtet. Ähnlich ist es mit politischen Instiutionen. Ihnen ist zuträglich, dass nicht alles politisch ist oder politisiert wird. In dem, was sie nicht ist, zeigt sich die Stärke einer Sache. – Mehr dazu in „scobel – Gespaltene Gesellschaft“, der Sendung, in der ich gestern zu Gast war.
Horizonterweiterungen
Was an Orten fasziniert, die Aussicht gewähren: das Meer, der Gipfel, die Turmspitze? Der Blick, der sich ungehindert auf den Horizont richten kann, macht wie kein anderer anschaulich, was sich in Wahrheit nicht sehen lässt: Möglichkeiten. Und ist damit dem Denken und der Freiheit nah wie nichts sonst.
Berechenbarkeit
„Eine komische Sache. Ein merkwürdiger Unterschied: Der zurechnungsfähige Mensch kann immer auch anders, der unzurechnungsfähige nie!“*
In der Willkür steckt immer auch ein Zwang, wie in der Freiheit immer auch die Lust an der Anarchie wirkt.
* Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften 1, 265
Gehemmtes Handeln
Das ist der größte Widersacher im eigenen Handeln: der Wille – nicht der, der zu wenig, sondern der, der zu viel will.
Sinnlose Tätigkeiten
Niemand findet Sinn, wenn er ihn sucht. Keiner gewinnt Vertrauen, wenn er es herzustellen beabsichtigt. Selten ist lustig, wer sich vornimmt, witzig zu sein … Es gibt Handlungen, die in dem Maße erfolgreich sind, wie man nichts tut, außer Voraussetzungen zu schaffen, die sie ermöglichen.
Toleranz oder Indifferenz
Der Unterschied zwischen Gleichgültigkeit und Toleranz ist, dass diese genau weiß, wann und wodurch sie selbst gefährdet ist. Und das hohe Gut verteidigt, dem sie sich verpflichtet hat.
Schwarz-Weiß
In jeder Borniertheit, Einseitigkeit, Engstirnigkeit und Ignoranz hat sich der Wunsch festgeschrieben, es möge diese mit sich selbst überlastete und von sich selbst überforderte Welt wieder Orte offerieren können, an denen die Zugehörigkeit mit Selbstverständlichkeiten belohnt wird. Man unterschätze nicht das Orientierungsbedürfnis, das sich in gesellschaftlicher Spaltung, ja Unversöhntheit befremdlich und entfremdet ausdrückt.
Überlegene Demokratie
Der heimliche Wettbewerb zwischen Diktatur und Demokratie, in dem sich entscheidet, in welcher Staatsform das weltumspannende Virus besser bekämpft wird, spiegelt sich wider in der Frage, ob der schnelle Entschluss eines autoritären Machtapparats sowie die harte Kontrolle und Überwachung seiner konsequenten Einhaltung wirksamer sei oder parlamentarische Debatten, die zu Kompromissen zwingen. Die Seuche reagiert freilich nur auf radikale Eingriffe. Am Ende, das bezeugt Erfahrung, widersteht der Ansteckungsgefahr der erfolgreich, der sich kaum Ausnahmen erlaubt. Da differenziert der Krankheitskeim nicht zwischen politischen Überzeugungen und Organisationsformen. Dennoch macht es einen grundlegenden Unterschied, ob der Rigorismus im Handeln verordnet ist oder das Individuum ihn sich selbst zuzuschreiben vermag (und sei es über den Umweg einer Repräsentanz in der Abgeordnetenkammer). Es gilt nicht nur, was die Bundeskanzlerin in ihrer Regierungserklärung gestern proklamierte: „Freiheit heißt Verantwortung“. Sondern vor allem das Umgekehrte: der Name für den Willen, sich Handlungen selber anzurechnen, ist „Freiheit“.
Kulturkampf
Es ist eine absolut reduzierte Vorstellung, die der staatliche Eingriff, ja Angriff auf die Kultur erzwingt von dem, was einst stolz und gelegentlich verharmlosend Kulturkampf hieß. Fortan kämpft die Kultur – nur noch um sich selbst. Jedes Ringen um Wahrheit oder zwischen Wertbegriffen, das in dem Maße leidenschaftlich geschieht, wie es ein Gemeinsames anerkennt, und es sei es allein das Recht des Denkens, sinnvoll zu entscheiden, setzt Kultur voraus. Sie ist eben nicht, was sich nur in Branchen erschließt, wie es die Politik fördert, wieder nur geleitet von einer Vorstellung der Funktionen, dessen, was Kultur leistet und beiträgt zur Aufrechterhaltung eines Systems (Theater, Galerie, Konzerthaus, Gastronomie, Sport). Sondern sie ist über all das hinaus, was in diesen Institutionen gestiftet und zur Selbstbildung offeriert wird, der unfassliche Ort des Selbstverständlichen, der Gemeinsinn, Teilhabe, Rücksichtnahme, Gespür und Geschmack, letztlich all jene schönsten Eigenschaften prägt, die für Krisenzeiten und deren Überwindung wesentlich sind. Kultur ist nicht notwendig; sie ist mehr als notwendig. Sie ist nicht relevant; sie ist essentiell. Sie funktioniert nicht, sondern ermöglicht, dass eine Gemeinschaft, auch eine Wirtschaft, stabil funktionieren kann. Ob das jene ernsthaft verstehen, die sie stets dann zuallererst in den Blick nehmen, wenn es ums Sparen, Verzichten und Einschränken geht, und zuallerletzt, wenn Erhaltung und Förderung nottut (was nicht allein und nicht vornehmlich finanzielle Aspekte behandeln muss)? Es mag sich rächen, dass Kultur stets eine problematische Beziehung zur Macht entwickelt hat, die sie oft verdächtigt, sich allzu sehr mit der Dummheit verbündet zu haben. Und dass sie fürchtet, von dieser korrumpiert zu werden, sobald sie sich in die Organisation von Führung begibt.
Mehr sprechen, weniger reden
Über den Zusammenhang zwischen Reden und Sprechen*:
1. Sprechen ist die Fähigkeit, so zu reden, dass Worte Gemeinschaft stiften.
2. Vor die Gemeinschaft ist das Hören gesetzt, das zunächst nichts anderes meint, als anzuerkennen, dass ein anderer etwas zu sagen hat.
3. Die Anerkenntnis lässt sich nicht erzwingen, sondern entsteht in der zirkulären Bewegung, die jede Rede vollzieht, die um sie wirbt und sie deswegen schon voraussetzen muss, weil sonst das Bemühen um Beachtung sinnlos wäre.
4. Jemand der gut spricht, schafft es in seiner Rede, die Anwesenden nicht nur fürs Zuhören zu gewinnen, sondern die Zuhörer zu Anwesenden zu machen. Was das bedeutet: Wer die Worte vernimmt, versteht, dass sie mehr bewirken als den Verweis auf das, was sie bezeichnen. Sie vermitteln Sinn und lassen entdecken, dass dieser Sinn nicht vereinzelt. (Einsamkeit ist die Erfahrung, dass dieser Sinn fehlt.)
5. Es wird mehr geredet als gesprochen. Es wird zu viel geredet und zu wenig gesprochen. Je mehr geredet wird, desto weniger wird gesprochen.
6. Das Reden beharrt auf Positionen. Das Sprechen öffnet Perspektiven.
7. Sprechen ist die einzige Möglichkeit, gemeinsames Handeln frei zu gestalten.
* Martin Heidegger hat in „Sein und Zeit“ in den §§ 34 ff. über das Verhältnis von Sprache und Rede gehandelt und in ihm das „Gerede“ verortet, das als alltägliches die Selbstauslegung des Daseins verschließt (S. 169).
Mit der Zukunft handeln
In jeder Zukunftsprognose, die aus der konsequenten Verlängerung der Vergangenheit gewonnen wird, steckt ein gehöriges Maß an Glauben an die Kausalität, an Folgerichtigkeit und Vernunft, an Logik und Gesetzmäßigkeit. Meist mehr, als es der Inhalt dessen, was da vorausgesagt wird, vermuten lässt.
Disziplin
Wenn Freiheit der Name dafür ist, dass wir verantwortlich genannt zu werden verdienen, dann ist Disziplin der Ausdruck davon, dass diese Verantwortung auch gegenüber sich selbst gelebt werden will.
Bauernregel
Es ist wenig los in diesen Zeiten der Ansteckungsgefahr auf dem Zentrumsplatz. Der Wochenmarkt, der zuverlässig die Gemüseernte von den Feldern in die Stadt bringt, kaum besucht, lädt ein zum Schlendern und Verweilen. Da bleibt Zeit für ein Gespräch mit der Bäuerin am Stand. „Wenn das so weitergeht“, sagt sie mit Blick auf eine kleine Gruppe Maskenverweigerer, „ist unsere Gesellschaft so gespalten, dass wir am Ende alle in die tiefen Gräben fallen, die sich zwischen uns aufgetan haben.“ „Aber dann wären wir alle wieder vereint“, erwidert der Flaneur listig. „Eben, weil wir alle verlieren werden“, kommt die Antwort prompt. Drei Sätze, und die Weltgeschichte erscheint, wenn auch düster, wieder geordnet.
Nichts tun
Der Unterschied zwischen einem Faulpelz und einem Intellektuellen ist so groß nicht, nur dass dieser einmal erfahren hat, wie reich die Produktivität ist, die im Nichtstun steckt. Seither weiß er, dass jenseits der alltäglichen Nützlichkeit sich ein Raum weit aufspannt, in dem vieles als „nutzlos“ erkannt wird und so manches dennoch mehr als nützlich zu sein scheint.
Liebe, die durch den Magen geht
Liebe, die durch den Magen geht, kann auch auf ihn schlagen.
Pandemie
Was das welterfassende Virus vor Augen führt: dass unser Handeln kleinteilig, selbstbezogen, lokal und, obwohl notwendig, nicht global angelegt ist. Der Größe des Ereignisses folgt die Fähigkeit nicht (kann ihr nicht folgen?), entsprechend koordiniert und weiträumig zu reagieren. „Die Welt“, das ist abstrakt, mehr denn je in einer Zeit, die sich auf sich selbst als ein Ganzes besinnen müsste, obwohl sie meint, als total vernetzte, das erledigt zu haben. Jedem müsste klar sein, dass ein gut zweiwöchiger, vollständiger Lockdown – so undenkbar und unwahrscheinlich das ist – den Erreger der Seuche ein für allemal vernichtete, das Problem löste. Es wäre wohl um vieles günstiger in den wirtschaftlichen Folgen. Und dennoch meinen wir erfolgreicher zu sein mit regional und national angelegten Strategien, in Wahrheit: weil wir es anders nicht können. Vielleicht lehrt die Seuche, was Globalisierung bedeutet, wenn sie von allen dasselbe verlangt; vielleicht zeigt sie aber auch nur drastisch, wie sehr uns „die Welt“ überfordert: dass unsere Gedanken so hochfliegend sind, wie unsere Taten fragmentiert.
Auf ein Wort
Wenn der Vorgesetzte um eine ehrliche Rückmeldung bittet, ist das die Situation, in der es keinen Gewinner gibt. Entweder heuchelt man Lob, Anerkennung und Begeisterung, was der Sache nicht dient, aber die heimliche Verachtung des Chefs gegenüber seinem Angestellten nur bestärkt, oder man greift zum klaren Wort, was die Karriere schon deswegen nicht fördert, weil der Leiter aus eigener Anschauung weiß, dass Direktheit und Deutlichkeit nicht jene Tugenden sind, die nach oben tragen.
Der erste Hauptsatz der Rhetorik
Die wichtigste Grundregel beim Sprechen: Finde ein Ende, am besten bevor du anfängst.
Die Kapelle spielt zum Untergang
Es ist die Schwäche der Kunst, zu sich selbst kein so freies Verhältnis zu haben, dass sie auf sich verzichten könnte: Sie muss sich ausdrücken. So viel zumindest scheint die Politik von ihr zu verstehen und zieht daraus die kalte Konsequenz. Weil sie weiß, dass selbst zum Untergang des Ozeandampfers die Kapelle noch trotzig aufspielt, erklärt sie vieles für rettungswürdig aus wirtschaftlicher Not, nur nicht die Kultur. Und verlässt sich zynisch auf deren Überlebenstalent, das zwar Hilfe wenig zu geben vermag, auch wenn es Hilfe dringend braucht, aber eines beherrscht, das nur wenige meistern: Kunst kann trösten.
Gesprächsstil
Die spannendsten Interviews entwickeln sich als harter Wettbewerb zwischen Frage und Antwort. Da versucht der eine, mit seinen Formulierungen sich so zu erkundigen, dass die Erwiderung nur das Beste, Schönste, Überraschendste hervorruft, weit jenseits gestanzter Phrasen. Und das Niveau der Entgegnung wiederum zwingt den Frager, sich Ungehörtes zu überlegen, in Gedankenfelder und Lebensräume vorzustoßen, die nur selten, allenfalls im entgrenzten Selbstgespräch, bisher betreten, geschweige denn erschlossen wurden. Nirgendwo führt die Lust an der Überbietung zu so sinnvollen Ergebnissen wie im Konkurrenzspiel um die originellste Rede und Widerrede.
Zufällig verpasst
Zum Wesen einer großen Stadt gehört die Zufallsbegegnung. Wo unwahrscheinlich ist, dass man einander ohne Verabredung trifft, wenn eine Million Menschen am selben Ort wohnen, arbeiten, sich bewegen, sorgt die Irritation, dass es dennoch geschieht, meist für erfreuliche Ablenkung. Städte faszinieren, weil sie das Leben unberechenbarer machen. Nun, da in Fußgängerzonen und auf Plätzen mit der Maske das halbe Gesicht zu bedecken ist, fallen viele dieser beglückenden Überraschungen aus. Das ist ein Nebeneffekt des Infektionsschutzes, nicht beabsichtigt, aber willkommen im konsequenten Kontaktvermeidungsverfahren: Man verpasst sich zufällig. Nicht nur dass es schwerer ist, an spezifischen Merkmalen den Bekannten zu identifizieren – plötzlich übernimmt der unverwechselbare Gang die Aufgabe für die verborgene Mundpartie. Der eigene Blick, und das ist befremdlich, richtet sich auch stärker nach innen, wenn das Antlitz hinter einem Stoffpartikel fast verschwindet. Die Außenwelt rückt in größere Distanz. Das Interesse an ihr wird kleiner. Am Ende riskiert eine Gesellschaft mit dem Ausfall zentraler sinnlicher Wahrnehmungsangebote das, was sie in Zeiten der Ansteckungsgefahr gerade besonders braucht: die Freude an reichen, zahlreichen und vielfältigen, Beziehungen. Auch die Solidarität, vielbeschworen in diesen Tagen, wird abstrakter.