So nah, so fern

Aus dem noch ungeschriebenen Groschenroman

Und ihr, wollt ihr noch sitzenbleiben? Oder darf ich mal die Rechnung bringen?“ Die Frage des Patrons hatte einen leicht ungeduldigen Unterton. Gewiss, vor einer guten Stunde hatten die Kellner mit dem Aufräumen begonnen. Die Tische waren gewischt, das unbenutzte Gedeck wieder in den Schrank sortiert. Alle anderen Stühle hingen kopfüber mit ihren Lehnen an der Kante wie leblose Hasen nach der Jagd zum Ausbluten am Haken. Schon zweimal war das Licht kurzzeitig ausgeschaltet worden; ein diskretes Zeichen zum Aufbruch. Dann war das Personal gegangen. Aber die beiden hatte es nicht gekümmert. Vielleicht hatten sie es nicht einmal bemerkt. Die Teller auf dem Tisch, längst abgetragen; die Gläser, fast leer; Besteck, beiseite geschoben. Er schaute den Patron an, fast vorwurfsvoll, dass er die Intimität des Gesprächs mit einem so gewöhnlichen Thema gestört hatte. Sie flüsterte: „Ja, lass uns zahlen. Wir finden schon noch was, wo wir uns hinsetzen können.“
Doch dann kam der Restauranteigner nicht mit der Rechnung, nicht mit dem Kartenleser. In der rechten Hand hielt er einen Schlüssel. „Schließt ab, wenn ihr aufbrecht. Im Regal steht noch genügend Wein. Wasser findet ihr im Kühlschrank hinter der Theke. Wir sehen uns morgen.“ Sprach’s, legte den Schlüssel auf die noch unbenutzte Serviette und verschwand.
Damit hatten sie nicht gerechnet. Das Gespräch, das stundenlang wie von selbst sich fortgezeugt hatte, stockte fortan. Inzwischen war es halb zwei geworden. Alles um sie herum schien viel präsenter zu sein, weil kein Klappern, kein Gebrabbel, kein Schimpfen aus der Küche mehr zu hören war. Nur das Eisfach und der Kühlschrank brummten in leichtem Vibrato. Er spürte plötzlich den Raum, ließ sich ablenken von einem entfernten Martinshorn draußen in einer der Straßenschluchten, spielte verlegen mit dem Schlüsselbund. „Entschuldige, aber was hattest du gesagt, bevor wir unterbrochen wurden?“
Sie schaute ihn an, erst erstaunt, dann allerdings legte sich ein feines Lächeln über ihren großen Mund, den er so gern küssen wollte, sich aber nie zu berühren von sich aus trauen würde. „Keine Ahnung.“ Natürlich wusste sie noch genau, was seine letzten Sätze gewesen waren, bevor der Hauspatron sich einschaltete in ihre Unterhaltung. Aber so einfach wollte sie es ihm nicht machen. Beziehungsstatus, darum war es die ganze Zeit gegangen. Nicht ihren, nicht seinen. Sondern um die Art der Beziehung, die sie beide, nun schon etliche Jahre, führten. Was das eigentlich sei? Sicher keine Bekanntschaft. Aber Freundschaft? Zwischen ihm und ihr? Vielleicht. Freundschaft Plus, das Berliner Modell aus Vertrautheit und lockerem, unverbindlichem Sex? Niemals. Dazu eigneten sie sich nicht. Sie hatten beide ein Talent für den Ernst, gelegentlich zur Schwere, in Liebesfragen zur Endgültigkeit, auch wenn jeder darin auf seine eigene Weise schon gescheitert war. In der Liebe hat das Absolute, das war ihre psychologisch geschulte Überzeugung, einen Hang zum Wiederholungszwang. Am besten und schönsten waren die Tage über die lange Zeit, die sie sich kannten, in denen das alles kein Thema war.
Gab es die überhaupt? Hatte er nicht stets das Gefühl, dass zwischen ihnen hügelweise Unausgesprochenes stand? Und sie, die besser war im An- und Aussprechen, den Eindruck, dass Unaussprechliches immer seltener die Form fand, in der es bei sich bleiben konnte wie in den Momenten, da sie Musik hörten, vorzugsweise skandinavischen Jazz, weniger Blues, mehr Romantik, wie das Trio des schwedischen Pianisten Bobo Stenson.
„Wie: Keine Ahnung? Du weißt doch genau, worüber wir gesprochen hatten. Und ich weiß es auch. Ich wollte endlich wissen, ob du einen Namen hast für die Weise, wie wir uns …“
„Sprich nicht weiter“, beschwor sie ihn und hielt ihm den Zeigefinger auf den Mund. „Das ist nicht gut, ein Geheimnis einzufangen, indem man ihm einen Begriff gibt.“ Er schwieg. Sie schwieg. Beide sagten minutenlang nichts. Dann flüsterte sie, kaum vernehmlich: „Es ist Liebe.“ Und erschrak im selben Moment, weil dieses Wort allergrößter Nähe zugleich der Ausdruck einer Ferne war, von der sie wusste, dass sie sich nie überbrücken ließe.
Plötzlich hörten sie ein Klopfen …