Monat: Juli 2017

Hierarchien für Flachköpfe

Befreit von den Verkrustungen formaler Hierarchie glauben viele Organisationen, auf Rangordnungen ganz verzichten zu können. Flache Strukturen, das einheitliche Du als Zeichen entspannter Kommunikation, der Verzicht auf den strengen Dresscode, eine offen gestaltete Büroarchitektur, die Arbeit in sich stets neu formierenden Netzwerken, ein paar Tischkicker im Hinterzimmer, bunte Besprechungsnischen vom Möbeldesigner, die italienische Siebträgermaschine für den fair gehandelten Espresso – und schon ist das agile Unternehmen ideologisch fertig gezimmert. Dumm nur, dass sich informelle Machtspiele in dem Maße schneller ausbilden, wie auf die äußeren Unterschiede zu achten verzichtet wird. Jede Hierarchie, das wird unterschlagen, ist eben auch eine Entlastung von der Frage, wie man aushandelt, wer stärker ist.

Im Griff des Großmauls

Warum siegt Frechheit? Der Vorteil der Chuzpe ist ihr Vorsprung. Indem sie die Gleichräumlichkeit einer Kommunikation überraschend aufkündigt und sich auf ein tabuisiertes Niveau begibt, kann sie schnell handeln, ohne fürchten zu müssen, eingeholt zu werden. Der Erwiderung verbietet es sich, mit ähnlichen Mitteln zurückzuschlagen, so dass sie eingeklemmt ist zwischen der Pflicht zur Antwort und dem Abscheu vor der Wortwahl. Während sie so noch mit sich selbst beschäftigt ist, hat sich die Dreistigkeit längst aufgemacht zur nächsten Attacke.

Kunst der Anarchie

In einem Rechtsstaat ist Anarchie die Gefahr schlechthin – und zugleich seine Rettung als einer Institution, die sich lebendig entwickelt. Sie beginnt immer als Anarchie der Sprache, die sich um Logik nicht schert, Stilformen verachtet und deren Grenzen durch obszöne Provokationen austestet. Da erst aber unterscheidet sich Qualität von Banalität. Allzu viele Zweideutigkeiten sind eben nichts als eindeutig und wirken allenfalls beleidigend, zudringlich, platt. Nur wenigen gelingt das Spiel mit der Empörung so, dass es das Niveau emporhebt.

Bühnentalent

Die Unterhaltungskünstler im Leben, in deren alltäglicher Gegenwart die Gelegenheit zur Langeweile gering ist, sind meist Menschen mit leicht komplizierten Seelen. – Joachim Fest, einer der klugen Köpfe und viele Jahre Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung trug stets einen Zettel bei sich, auf dem er einen Satz seines Vaters notiert hatte. Das Wort las er als eine Art Lebensmotto: „Ertrage die Clowns.“

Open end

Wenig bereitet mehr Verdruss als eine Geschichte, die nicht zu Ende erzählt werden kann – mit einer Ausnahme: dem Cliffhanger, der das Prinzip der Fortsetzung entlarvt, die nichts anderes ist als ein aufgeschobenes, vertröstetes Ende.

Erzählfaden

Die Hauptaufgabe von Geschichten: Lebensverhältnissen, die viel zu verschlungen sind, um sie in Worte zu fassen, Sinn zu geben. Erzählungen vereinfachen; Vereinfachungen sind die Bedingung dafür, dass eine Sache bedeutsam sein kann.

Zuviel des Guten

Die Diktatur der Moral hat einen Namen. Sie heißt Bescheidenheit. Macht sie politisch Karriere, nennt sie sich Gerechtigkeit.

Für immer

Das gewisseste Kennzeichen für die Qualität einer Liebe ist das Maß der Zeit, das man mit dem anderen verbringen will.

Gedankenlos, sprachlos

Man kann der Sprache durchaus zutrauen, dass sie fähig ist, einen Gedanken zu entwickeln. Das gelingt ihr öfter, als es umgekehrt glückt: einer Idee den richtigen Ausdruck zu geben. Mit einem Wort zu beginnen und sich von ihm führen zu lassen in dem, was es sagen will, ist kein schlechter Ansatz. Es steckt mehr als eine kleine Wahrheit in der sprachkritischen Notiz, die uns Karl Kraus geschenkt hat: „Es genügt nicht, keinen Gedanken zu haben: man muss ihn auch ausdrücken können.“* Denn es reicht gelegentlich völlig, den Begriff zu haben; das, was in ihm steckt, zeigt sich, wenn er gesetzt ist. So mancher gute Gedanke ist auf diese Art entstanden.

* Die Fackel, 697

Lehre aus der Leere

Alleinsein: niemand da, jemand fehlt.
Einsamkeit: alles da, nichts genügt.

Kein Grund zur Scham

Diskretion: den anderen vor den eigenen Blicken schützen.

Paare, Passanten

Beobachtungen im Park während der Mittagspause: zwei Paare, Bürokollegen, schlendern über den Rasen.
Das eine Paar am Anfang einer Romanze. Der Mann gestikuliert ausladend; sie hört ihm lächelnd interessiert zu und lässt ihn reden. Er erklärt ihr die Welt.
Das andere Paar am Ausgang einer Beziehung. Die Frau hebt beschwörend die Hände und spricht auf ihn ein; er schaut gelangweilt und peinlich berührt weg. Sie versteht die Welt nicht mehr.

Zeit, sich zu stellen

Generation Instagram: Posen, statt sich zu positionieren; sich zur Schau stellen, statt Stellung zu beziehen.

Wie entscheide ich richtig?

Auf einem schmalen Radweg eilt der Fahrer mit seinem Gerät aus Leichtmetall und nähert sich behende einer Frau vor ihm, die im gemächlich entspannten Tritt die Landschaft genießt. Er klingelt. Auf den Warnton antwortend, lenkt sie kurz nach links; der Meter neben ihr passt zum Passieren. „So?“ ruft sie fragend. „Oder so?“ Dabei schwenkt sie nach rechts, um links frei zu machen; der Rennradfahrer muss abrupt bremsen und kommt leicht ins Schlingern. Knapp streift er sie, aber kommt vorbei. „Ein So reicht völlig“, meint er en passant und trifft den Kern jeden Entschlusses: Sich entscheiden bedeutet immer, auf Freiheit zu verzichten. Der Gewinn von Wirklichkeit ist erkauft mit dem Verlust vieler Alternativen.

Der Kandidat

Die Verlegenheit jedes Kandidaten, der um ein politisches Amt kämpft, ist, dass er nach der Macht streben muss, um seine Inhalte durchzubringen, aber von Inhalten reden muss, um nicht im Ruf zu stehen, nur an die Macht kommen zu wollen. Wohingegen der Amtsinhaber nicht von Inhalten sprechen muss, um an der Macht zu bleiben, aber auf seine Macht verweisen kann, wenn er auf Inhalte angesprochen wird. Regierungswechsel gelingen nicht, weil das Volk sich für ein Programm entscheidet, sondern weil es begonnen hat, die Herrschenden für impotent zu halten.

Beifallssturm

Nirgendwo ist der Gruppenzwang größer als beim Applaus. Ein Publikum spürt den Moment, von dem an es nicht mehr um die zu würdigende Leistung des Künstlers geht, sondern nur noch um die Frage, wer es mit dem Klatschen am längsten aushält.

Ganz und gar nicht

Aus dem noch ungeschriebenen Roman:
„Ich bin überhaupt nicht eitel“, sagte er von sich so überzeugt, dass sie Mühe hatte, nicht loszuprusten. Augenblicklich fiel ihr ein, was der Großmeister der Mode Karl Lagerfeld mal – sie meinte, es sei in einer Talkshow gewesen – in seiner atemlosen Art von sich gegeben hatte. Er machte nicht einmal eine Pause, um die Pointe wirken zu lassen: Wer eine Jogginghose trägt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren. Der Satz saß unter den vielen Sätzen, die gut passten, maßgeschneidert perfekt. Er blieb ihr knitterfrei im Gedächtnis hängen. Aber warum? Wenn sie recht überlegte, war sie noch nie mit einem Mann zusammen, der zuhause im Schlabberlook herumlief.
Bei ihm konnte sie sich das auch nicht vorstellen. Sie kannten sich ja noch gar nicht. Wie er sich in den eigenen vier Wänden gab, wusste sie nicht. Dennoch ahnte sie aus den wenigen Gesprächen, die sie bisher miteinander geführt hatten, dass sein Selbsterhaltungstrieb, und Eitelkeit ist eines der eindeutigen Kennzeichen, stark ausgeprägt ist. Er war charmant eitel, diskret selbstbewusst, was das genaue Gegenteil ist von eitlem Charme. Dem widersetzte sie sich stets, jenem war sie gerade dabei zu erliegen.
In ihren Gedanken verloren, die mal wieder abschweiften wie die Flaneure in der Stadt, hörte sie fern: „Hab ich was Falsches gesagt?“. Und sie schüttelte die Phantasien bedauernd ab. „Ja. Eben“, antwortete sie spontan.

Ergebenheit

Schicksal ist der mythische Name weniger für das Los, das Menschen ereilt, als für den Mangel an Kraft, sich einem Ereignis zu widersetzen.

Augengriff

Eine Welt genau anschauen bedeutet, sie zu verstehen.
Einen Menschen genau anschauen heißt, ihn zu verändern.
Nicht jedes Verständnis verändert; nicht jede Veränderung ruht auf Verstehen.

Betrug, Betrag, Beitrag

Beitrag, wie man nur durch Wortverdrehung in eine verkehrte Welt gerät:
Im Unterschied zum Inkasso, das als rechtmäßiger Prozess gilt, unbeglichene Beträge von unerschrockenen Schuldnern folgenreich einzutreiben, ist das Inkasso als Betrug ein recht mäßig erfolgreiches Treiben, Unschuldige gleich mit Prozessen zu erschrecken.

Verflogen, nicht verflossen

Man kann Menschen zuverlässig unterscheiden nach der Halbwertszeit ihres Zaubers, den sie auf andere ausüben. Da hat sich mancher magische Eindruck schon verflüchtigt, bevor sich Ernsteres zwischen Zweien anbahnen konnte. Was braucht es eine tiefe Einsicht in Charakterschwächen, wenn die meisten Enttäuschungen im Beziehungsreigen aus einer allzu schnell kollabierten ersten Begeisterung rühren. Versprechen, auch stillschweigende, zu halten, ist noch immer die stärkste Voraussetzung stabiler Verhältnisse. Das kann so tief nachwirken, dass der Zauber nicht weicht, obwohl der längst verschwunden ist, von dem er ausgeht, weil das Versprechen an seine Stelle getreten ist und mit magischen Kräften fesselt.

Zeitenwende

Vergangenheit ist ein anderer Name für all die Erfahrungen, die wir mit unserer Endlichkeit verbinden.
Zukunft ist jene Zeitvorstellung, in die hinein wir unser Bedürfnis nach Unendlichkeit legen.
In der Gegenwart loten wir aus, wie sich beide, die Bestimmtheit einer Tat und das Unfassliche einer Erwartung, das Konkrete eines Gedankens und die Unbeschränktheit der Phantasie, zueinander verhalten.

Klein und groß

Nicht nur große Denker begehen große Irrtümer, auch Kleingeister können groß scheitern.

Ohnmächtig

Es ist eine der bemerkenswerten Errungenschaften zivilisierter Gesellschaften, dass sie die Erfahrung von Ohnmacht nicht sofort als Aufforderung ansieht, Hemmungen abzuwerfen. Wo Macht fehlt, darf Gewalt sie nicht ersetzen wollen.