Monat: Juni 2019

Hätte, hätte, hätte …

Krisengespräche verhindern den Stillstand. Weil nichts mehr vorangeht, läuft das Leben in ihnen zunächst rückwärts ab, um einen neuen Schwung aufzunehmen. Der Konjunktiv verpasster Gelegenheiten verwandelt sich in den Imperativ, die nächste Chance fest zu ergreifen.

Den Mund aufmachen

Talkshow: die wöchentliche Feier der Floskel. Sie verbirgt, wie anstrengend es sein kann, das Wort aus dem Schweigen zu holen, um ihm Bedeutung zu geben. Und es im Gespräch zu halten, damit es seine vornehmste Aufgabe, – nicht nur Welt zu erschließen, sondern – Welt zu gestalten, erfüllen kann. Die Grundbedingung des talk ist: mit dem Reden der Runde schon anzubieten, dass jederzeit vergessen werden kann, was gesagt wird.

Gartenfreuden

Gartenfreuden im Hochsommer: Die zwei Stunden, die man sich mühsam vom Arbeitspensum abkneift, verbringt man inmitten blühender Wildrosen und duftender Staudenrabatten, um mit dem Wasserschlauch bis in die letzten Winkel nachzufüllen, was die trockene Hitze hat verdunsten lassen. Der Nachbar zur Linken hat derweil die lautstark ratternde Heckenschere angeworfen; der liebe Freund zur Rechten das Grillfeuer entfacht und die ölgetränkte Lammhüfte zu heftigem Qualmen gebracht. Sommer sei Gartenzeit, so wirbt das Pflanzencenter prominent platziert in der Zeitschrift. Es unterschlägt, dass das, was uns nervt, nur nach draußen verlagert wird.

Schlaf und Moral

Wer schläft, sündigt nicht. So der Volksmund. Das ist natürlich ein so großer Unsinn, wie es das Unrecht auf das Tun reduziert. Das Umgekehrte kommt allerdings viel häufiger vor. Kein so gutes Ruhekissen ist das schlechte Gewissen: Wer sündigt, schläft nicht.

Klimawandel

Aus einem Gespräch mit einer Marktfrau in Trient; Heinrich Heine schildert es in seinen „Reisebildern“, die er im Jahr 1840 veröffentlichte: „In unserem Lande ist es sehr frostig und feucht, unser Sommer ist nur ein grün angestrichener Winter, sogar die Sonne muss bei uns eine Jacke von Flanell tragen, wenn sie sich nicht erkälten will.“*

* Reisebilder, Band 3 (Reise von München nach Genua), Kapitel 16

Der große Pan

An heißen Tagen, so der Bericht des treuen Eckermann, verweilte Goethe gern unter einem Ensemble aus Tannen, Eichen, Birken und Buchen. „Bei großer Sommerhitze … weiß ich keine bessere Zuflucht als diese Stelle. Ich habe die Bäume vor vierzig Jahren alle eigenhändig gepflanzt, ich habe die Freude gehabt, sie heranwachsen zu sehen, und genieße nun schon seit geraumer Zeit die Erquickung ihres Schattens … Ich sitze hier gerne an warmen Sommertagen nach Tische, wo denn auf diesen Wiesen und auf dem ganzen Park umher oft eine Stille herrscht, von der die Alten sagen würden: daß der Pan schlafe.“ So zitiert ihn der beflissene Begleiter in seinen Aufzeichnungen. Und fügt hinzu: „Indessen hörten wir es in der Stadt zwei Uhr schlagen und fuhren zurück.“ Mit dieser Bemerkung endet das 40. Kapitel der „Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens“. Es ist der Bruch mit der Idylle, mit der Erinnerung an die Alten. Eine Turmuhr gibt Laut. Von Pan, dem Hirtengott, heißt es, dass er die Herdentiere furchtbar in Schrecken versetzen konnte, wenn er geweckt wurde (Panik!). Der Mittag ist zuende, wenn der Gott die Augenlider wieder aufschlägt. Nicht früher. Das unterscheidet die modernen Götter, und seien es die Größten unter den Dichtern, dass sie vom Glockenschlag erinnert werden, wann ihre Zeit um ist.

Alle Tage

Es gibt Tage, an denen die geheime Verwandtschaft von Zuverlässigkeit, fester Ordnung, Loyalität oder Routine, also aller Tugenden der Beständigkeit, und Langeweile sinnfällig wird. Was im Umkehrschluss bedeutet, dass die interessantesten Formen des Lebens zugleich im Verdacht stehen, nicht alltagstauglich zu sein.

Pflicht und Kür

Das Schönste, was sich von einem Menschen sagen lässt, der nicht funktioniert: Er hat verstanden, was es bedeutet, quicklebendig zu sein. Was aber ist Pflicht, was Kür?

Wiederbegegnung

Wie wenig die eigene Geschichte einem selber gehört, erfährt man nicht zuletzt, wenn sie wiederbegegnet in Gestalt von Menschen, die einst Teil von ihr gewesen sind. Und die mit ihr verbinden, was man selber nicht mehr erinnert oder nicht wahrhaben will. Man fremdelt wie ein kleines Kind, das erstmals in die Obhut der bekannten, aber noch nicht vertrauten Großeltern gegeben wird. Was hat man einander zu sagen, wenn es nicht möglich, nicht günstig ist anzuknüpfen daran, dass man ehedem einander was zu sagen hatte, weil das Gedächtnis dort Bedeutsamkeiten bereithält, die hier nie eine Rolle gespielt haben? Es gibt Enttäuschungen, die verspätet zugestellt werden.

Politik, im Kleinen und Großen

Ein gut Teil unseres Ärgers über Behördenwillkür und amtliche Überheblichkeit rührt daher, dass Politiker oft denken wie Verwaltungsbeamte und die Verwaltungsmenschen viel zu politisch handeln. So kommen Vorschriften zustande, deren einziger Zweck ist, als Machtmittel eingesetzt zu werden gegen den gesunden Menschenverstand, und deren Durchsetzung sich den Anschein gibt, einen größeren Gesellschaftswillen zu vollziehen.

Bier her, Bier her

Die Popularität des Biers bei der Getränkewahl in Restaurants rührt aus der Furcht, die Weinempfehlung des Kellners spätestens am nächsten Tag zu bereuen. So selten wie ein schlechtes Fasspils ist der kundige Service bei der Auswahl einer gut gekelterten Traube.

Leise Töne

In einer schrillen Welt haben die leisen Stimmen nur Aufmerksamkeit, wenn sie an sich so lautstark verzweifeln, dass sie besser und eindringlicher gehört werden als alles, was sonst voll tönt, wie es hohl ist. Wie kann das gelingen: den selbstgefälligen Posen in der Politik, dem allzu knalligen Image in der Wirtschaft, dem hysterischen Aufflackern von Egokampagnen, die sich als Gesellschaftskritik oder Verheißung ausgeben, mit Bedachtheit, gedanklicher Schärfe und Tiefe, mit diskreter Qualität so zu begegnen, dass es weder überhört wird noch gleich betulich wirkt? Nietzsches Hoffnung ist: „Die stillsten Worte sind es, welche den Sturm bringen. Gedanken, die mit Taubenfüßen kommen, lenken die Welt.“* Vermutlich muss diese Welt über sich selbst erst einmal wieder derart erschrecken, dass sie für einen gelähmten Augenblick heilsam verstummt.

*Also sprach Zarathustra, Die stillste Stunde

Alle unsere großen Wörter

Alle unsere großen Wörter – und zu ihnen zählen: Sinn, Freiheit, Wahrheit, das Ganze, der letzte Grund, die Liebe, nicht zuletzt: Leben – deren Aufgaben sind größer als deren Bedeutung. Sie klingen eher nach einer Melodie, als dass sie wie ein Begriff aufgestellt sind; sie haben mehr von einer Frage, als dass sie Antwort geben; muten abgegriffen an wie ein Geldschein, der zu lang im Umlauf gewesen ist. Und doch scheint in ihnen auf, was uns veranlasst, nie auf sie zu verzichten: Es ist die Erinnerung, dass sie ein Name gewesen sein könnten, den wir noch anrufen, indem wir sie benutzen, ohne zu wissen, wer es sein könnte, den wir mit ihnen meinen.

Veröffentlichungspflicht

Jeder Text, der nicht den strengen Regeln der Veröffentlichungspflicht folgt, sondern in die Publikation freiwillig drängt, muss sich gefallen lassen, nach den noch strikteren Maßstäben der Verführungskunst beurteilt zu werden. Es gibt kein anderes Kriterium als das eines Publikums, das sich hat von ihm bezaubern lassen oder durch ihn abstoßen. Es ist wie beim Flirt, der gelingt, wenn die Suche nach Nähe nicht zur Sucht nach Nähe ausartet, wenn die Andeutung, sich im anderen verlieren zu können, nicht heißt, dass man sich verloren hat. Ein guter Text ist für den Leser gedacht, aber nicht um des Lesers willen geschrieben.

Ohne Widerstand

Ohne Widerstand: das ist die Formel der Einsamkeit. Weil die beste Eigenschaft der Freunde fehlt, nämlich dass sie die Einwände vortragen, zu denen man selber nicht den Mut hat, dass sie hartnäckig in die Zwiesprache gehen und Hindernisse aufstellen, dass sie nicht alles akzeptieren und die Zustimmung nur nach langer Werberede geben – weil es an dieser lebendigen und höchst schöpferischen Widerspenstigkeit mangelt, baut ein einsames Ich sich diese Blockaden selbst und wird sich selbst zum eigenen Feind.

Zu Gast bei Schlitzohren

Nur wenigen Restaurants glückt jene gastfreundliche Schlitzohrigkeit, die den Besucher so effizient über den Tisch zieht und deren kleine Betrügereien so offenkundig sind, dass es ihm peinlich wäre, auf sie auch noch aufmerksam zu machen. In den Brotkorb wird mit Geschick mindestens ein altbackenes Stück diskret versteckt; das teure Tafelwasser in edlen Flaschen geöffnet serviert, es perlt so lebendig, dass es frisch aus der Zapfanlage kommen muss; am schorletauglichen Hauswein in der schönen Kristallkaraffe mangelt es nie, auch wenn er nicht bestellt wurde; auch an der Pasta gibt es nichts zu mäkeln. Kaum geordert, steht sie schon dampfend auf dem Tisch. Und wenn schließlich die Rechnung zu verlangen ist, so weiß der kundige Mittagsgast, dass der genannte Betrag regelmäßig um ein paar Euro zu hoch angesetzt ist, so dass er sich nicht grämen muss, zu wenig Trinkgeld hingelegt zu haben. Nirgendwo die große Oper wie beim Edelitaliener nebenan. Eher eine gutgeölte Schmierenkomödie. Er kommt gern wieder.

Sind die echt?

Im öffentlichen Diskurs ist die Echtheit derzeit so populär, dass sie schon wieder aufgesetzt wirkt. Nicht jeder, der sagt, er sage, was er denkt, denkt nach, bevor er etwas sagt; aber wenn er einfach nur sagt, ohne sich etwas dabei zu denken, dass er sage, was er denkt, denken viele,  dass er etwas zu sagen habe. Dabei ist Authentizität jene Masche, die davon ablenken will, wie sehr wir uns verstellen müssen, sobald das Publikum zur Begutachtung auf die Bühne tritt. „Der Mensch ist am wenigsten er selbst, wenn er in eigener Person spricht. Gib ihm eine Maske, und er wird die Wahrheit sagen.“* (Und sei es, dass er sich mit einer blauen Tolle verkleidet.)

* Oscar Wilde, Der Kritiker als Künstler, Werke 1, 509

Theorie, praktisch betrachtet

Jede Theorie arbeitet an der Entmachtung ihrer Interpreten.

Grenzüberschreitungen

Freundschaft, Kollegialität, Nachbarschaft, Verwandtschaft oder Familie, sie alle sind verschiedene Orts- und Abstandsbezeichnungen, die verhindern sollen, dass sich Nebenmenschen, die wild zwischen Mitmenschlichkeit und Unmenschlichkeit hin- und herpendeln, einander zu nahe treten. Da kommt es nicht darauf an, ob in schlechter Absicht der Nachbar mit einem freundschaftlichen Rat droht oder die Kollegen sich harmoniebeseelt als Großfamilie organisieren. Solange die Rollenmuster in ihrer grenzsichernden Funktion geachtet bleiben, die dem Eigensinn jedes Einzelnen zureichend Raum lassen, darf man auf Zuordnungen setzen, die ein Miteinander gelingen lassen, ohne dass gleich ein Gemeinsinn ausgebildet sein muss. Nicht selten freilich sorgen gerade diese Bewahrer vor der Menschenfeindlichkeit dafür, dass wir misanthropisch werden.

Sanftmut

Ein zartes Wort:
Sanftmut ist die Erinnerung an die Leidenschaft, dass sie Zeit braucht.

Grenzen des Künstlichen

Nicht seine Intelligenz macht den Menschen zum Menschen. Aber Geist. Es kann keinen künstlichen Geist geben, wie künstliche Intelligenz in Maschinen die Welt längst bevölkert. Was Geist ist? Das Chaos in der Logik, die Frage als Antwort, der Abstand, um Nähe zu gewinnen. Freiheit, Souveränität, Gelassenheit. Das Verhältnis, das einer zu sich selbst entwickelt, indem er es zu anderen aufbaut. Freude, Mut, Arglosigkeit. Der Vorrang des Lassens vor dem Tun. Ironie, Doppelsinn, Bildrede. Das, was über uns hinausreicht, größer ist als wir, obwohl es ohne uns nicht sein will. Eine Dimension eigenen Rechts.

Erträgliche Wahrheit

Es ist lebensklug, den Geist der Wahrheit, der den Menschen seit den Tagen von Pfingsten geschenkt ist, auch den Tröster zu nennen. Das ist nicht eine und dieselbe Eigenschaft; es sind zwei verschiedene Aufgaben: zu sagen, was ist, und es so zu sagen, dass wir es aushalten. Wieviel Aufgeklärtes ist unerträglich; und wieviel Abgeklärtes einfach nur haltlos. Jedes Wort, das jener Geist spricht, der der heilige genannt wird, zielt nicht nur aufs Verstehen, sondern vor allem auf Versöhnung.

Demonstranten

Gestern liefen sie wieder durch die Stadt, am späten Freitagvormittag. Und demonstrierten lautstark für ihre, für die Zukunft aller. Begleitet von ein paar blaulichternden Motorrädern zogen sie die Verkehrsader entlang und riefen, rhythmisch, ihre Parolen. Die Stimmen klangen hell und schrill, aus hundert Kinderkehlen drangen die Sorgen um das Weltklima, die Angst vor der Katastrophe durch die Straßenschluchten. Artikulierte Sätze waren, bei allem Bemühen, kaum zu verstehen. Nur die Wucht, mit der sie vorgetragen wurden, spürten die unbeteiligten Straßenpassanten. Je heftiger die Schüler schrien, desto stärker mischte sich der Widerhall von den Hausmauern mit den nur zu ahnenden Aussagen zu einem anschwellenden Geräuschpegel wie von einer kurzatmig kreischenden Maschine. Es geschah Seltsames: Immer enger rückten die Mitglieder des Zugs zusammen, verhakten sich untereinander, verschmolzen in der Hitze des Gebrülls zu einem festgebackenen Block; wohingegen etliche Zeugen des Geschehens stehenblieben, fasziniert vom Geräusch, verstört von der Macht der unverständlichen Wortwucht, und keine Bindung fanden zu irgendeiner Botschaft. Es ging, so konnten sie fest vermuten, um die eine Welt, unsere gemeinsame, und doch war die Kluft selten größer zwischen der engagierten Gruppe dort und den irritierten Individuen hier, in der jeder plötzlich ein Sonderling im Weltgeschehen war mit seinen kleinen Geschichten und großen Anliegen.

Genau

Der Fahrgast, der um die Anschlussverbindung fürchtet, weil die Bahn mal wieder hoffnungslos verspätet ist, wendet sich hilfesuchend an die Zugchefin. Er nennt die aktuell erwartete Ankunftszeit und verweist darauf, dass es dann für einen Umstieg nicht mehr reichen werde, so dass er an seinem Ziel erst tags drauf ankommt. „Genau“, sagt die uniformierte Mitarbeiterin. Ob sie denn einen Taxigutschein ausstellen könne, das würde sehr helfen. „Leider nein“, sagt die Reisebegleiterin. Andernfalls aber würde er notgedrungen irgendwo übernachten müssen, erwidert der Gast. „Genau“, heißt es wieder. Das wolle er nicht hören, entgegnet der sichtlich genervte Passagier. Er habe sie angesprochen, weil er von ihr Unterstützung erwartet. „Genau.“ Da bricht es aus ihm heraus: Ob sie denn nichts anderes zu sagen wisse? „Leider nein“, sagt die Erste Betreuerin gleichmütig. Dem Gast platzt der Kragen. Dieses einförmige Reagieren habe sie wohl beim letzten Besuch eines Konfliktlösungsseminars gelernt, presst er aus sich heraus. „Genau“, antwortet die Zugbegleiterin. Und lächelt nichtssagend.